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Michael Williams

Schattenreiter. Das Siegel des Verräters

1

Bankett mit Überraschungen

Fürst Alfred Merkenin wurde unruhig, während er vor seinem Platz am Tisch wartete. Er bekam eine Gänsehaut und rieb sich die Hände wieder warm, bevor er seinen Blick durch den Ratssaal wandern ließ. Heute abend wogte darin ein kaltes Fahnenmeer.

Die Standarten der großen Familien von Solamnia wirkten im flackernden Fackelschein merkwürdig gespenstisch. Die alten Stoffe, einst dick und glänzend, jetzt vom Alter fadenscheinig, hoben sich leicht und bewegten sich im Winterwind, der durch die zugige Halle wehte. Natürlich war das Wappen von Merkenin dabei, und die an den Haaren herbeigezogenen Wappen der Häuser Karthon und MarThasal, miteinander verknüpfte Darstellungen von Sonnen, Eisvögeln und Sternen. Dazwischen prangten stolz das Rosendickicht von Uth Wistan und der Phönix des Hauses Peres. Die niederen Häuser – Inverno und Kronenhüter und Ledyard und Jeoffrey – waren ebenfalls vertreten. Die ersten Zeremonien waren abgeschlossen, und dreihundert Ritter von Solamnia setzten sich, um den Tod des Jahres abzuwarten.

Ist dies nicht schließlich Anfang und Ende der Julzeit, fragte sich Fürst Alfred, als der dumme Jack, der eigentlich der Gärtner war, umständlich die Kerzen auf dem Tisch anzündete. Der Tod eines weiteren Jahres?

Der mächtige Ritter, Hofrichter des Ordens von Solamnia, setzte sich wenig erwartungsvoll auf seinem hochlehnigen Mahagonistuhl am Kopf der längsten Tafel zurecht. Er fürchtete das Unwägbare, und zweifellos näherte sich Unwägbares, während der Kerzenschein heller wurde. Er sah sich um, blickte in die Gesichter seiner Kohorten und Offiziere. Es waren viele, so unterschiedlich wie Edelsteine, und in ihren Augen konnte er ihre Gedanken zu diesem feierlichen Abend ablesen.

Fürst Gunthar Uth Wistan saß zu seiner Linken. Untersetzt und kaum dreißig, doch das Haar bereits stahlgrau. Nach Fürst Bonifaz Kronenhüter, dessen Ehre schon Legende war, war Gunthar der beste Schwertkämpfer bei diesem Bankett. Solche Männer hatten stets wenig für derartige Zeremonien über, die ihnen irgendwie zu zahm und zu nett vorkamen. Fürst Alfred fühlte mit seinem Freund und beobachtete ihn weiter. Gunthar wünschte sich ganz eindeutig, das alles wäre schon vorbei – vom Essen über das Ritual bis zu den großartigen Unterbrechungen. Unruhig starrte er durch die wahre Armada von Standarten zu der Stelle, an der die Dunkelheit Seide, Leinen und Damast fast verschluckte, an der Fürst Bonifaz, sein nur äußerlich freundlicher Rivale, in einem Pulk junger Anhänger saß. Lauter Knappen, die seine Haltung nachahmten und den berühmten Mann um seine Schwertkunst beneideten.

In jenen Schatten konnte man eine ähnliche Ungeduld erahnen. Obwohl Gunthar behauptete, Bonifaz ertrüge bei all seiner Hingabe an Eid und Maßstab das Warten mit mehr Anstand, fand Alfred, daß die Nervosität und das Schweigen des großen Ritters noch einen weiteren Grund haben müsse. In Gunthars Denkweise bedeutete eine Zeremonie nur eine Verzögerung zwischen den Schlachten, für Bonifaz hingegen war sie die wahre Schlacht.

Zur Rechten von Fürst Alfred hatte mit hörbarem Knacken der Knochen und stillem Seufzer Fürst Stephan Peres Platz genommen, ein alter Haudegen auf steifen, aber erstaunlich standhaften Beinen. Alfred lehnte sich zurück, trommelte mit den Fingern auf die dunklen Armlehnen und hob dann die rechte Hand. Auf dieses Zeichen hin setzte die Musik ein. Es war ein behäbiger Marsch, langsam und melancholisch, wie es dem Ende des Jahres 341 nach der Umwälzung angemessen war.

Neben dem Hofrichter lächelte Fürst Stephan milde in seinen dichten Bart. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann, der, anders als die anderen älteren Ritter, weder Gewicht angesetzt hatte noch in Träumen versunken war. Es hieß, sein exzentrisches Wesen hätte ihm seine Gesundheit erhalten – das und die Gabe, sich über fast alles zu amüsieren, was im Turm und im Orden geschah.

Heute abend aber fiel dem Alten das Lachen schwer. Das Ende seines fünfundachtzigsten Jahres rückte heran, und damit – wie immer – diese Zeremonie des Gedenkens, bei der die Säle voller Fahnen waren. Er war das alles leid: den Pomp, die Trompeten, den endlosen Winter, den bitterkalten Dezemberwind aus dem Vingaard-Gebirge.

Fürst Stephan hob das Glas, und mit gesenkten Augen füllte Jack es erneut mit bernsteinfarbenem Kharoliswein. Durch das goldene Glitzern betrachtete Stephan den Knappentisch neben dem Tisch von Fürst Bonifaz. Er konzentrierte sich dabei auf eine einzige, flackernde Kerze im Dämmerlicht, welches die Zeremonie vorschrieb.

Neben dieser Kerze saß gedankenverloren ein junger Mann. Es war Sturm Feuerklinge. Ein Südländer aus Solace, obwohl seine Familie aus dem Norden stammte und von jeher dem Orden angehörte.

Das Ebenbild von Angriff Feuerklinge, dachte Fürst Stephan. Von Angriff Feuerklinge und von Emelin vor ihm, und von Bayard und Helmar und jedem Blitzklinge bis zurück zu Bertel, der die Linie im Zeitalter der Macht begründet hatte.

Sturm hätte sich über Stephans Gedanken gefreut, denn schließlich war er nach sechsjährigem Exil in das geplagte Solamnia zurückgekehrt, um seinen Platz in dieser Reihe einzunehmen. Mit zehn Jahren hatte man ihn in einer Winternacht aus Schloß Feuerklinge herausgeschmuggelt, und sein Vater existierte für ihn kaum mehr als Person, sondern nur noch in einigen wenigen Bildern und Episoden. Von Anfang an hatte Angriff Feuerklinge sich auf die solamnischen Pflichten konzentriert und den Jungen der Obhut seiner Mutter und der Dienerschaft überlassen.

Sturm jedoch hatte sich aus seinen spärlichen Erinnerungen, aus den Geschichten seiner Mutter und zweifellos aus eigener Phantasie einen Vater zusammengereimt. Angriff wurde immer netter und mutiger, je länger der Junge von ihm träumte, und solche Träume wurden seine einzige Zuflucht in Abanasinia, fern von den Höfen von Solamnia, unter gleichgültigen Südländern in einem unbedeutenden Nest namens Solace. Dort erzog ihn seine Mutter, Fürstin Ilys, mit mehr Tutoren als Freunden, dort lehrte sie ihn höfisches Benehmen, die alten Sagen und die Geschichte der Familie…

Und verdarb ihn, sinnierte Fürst Stephan lächelnd, für alles andere als die Ritterschaft von Solamnia.

Ilys war an der Pest gestorben. Es hieß, der Junge hätte seine wenigen Freunde fortgeschickt, um allein und schweigend die vorgeschriebene Totenwache zu halten. In jenem Herbst kümmerten sich die Fürsten Gunthar und Bonifaz, einst Angriff Feuerklinges engste Freunde, darum, daß Sturm nach Burg Thelgaard zurückkehrte, um dort weiter für den Orden erzogen zu werden.

Sturm hatte sich im Norden nicht leicht eingelebt. Er war intelligent, soviel war sicher, und die Jahre der stolzen Armut hatten ihn auf manche Weise abgehärtet, um die die Jungen aus dem Norden ihn insgeheim beneideten: Er kannte sich in den Wäldern aus und konnte wie ein erfahrener Ritter reiten. Aber sein südländisches Verhalten und das altsolamnische Getue kamen den modernen jungen Männern, den Knappen und Rittern der wichtigen solamnischen Familien, wie Überbleibsel aus der vorherigen Generation vor. Sie nannten ihn »Opa Sturm« und lachten über seinen Dialekt, die unendlich vielen Werke, die er auswendig kannte, und seine Versuche, sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen.

Einst hatten sie auch seinen Vater verlacht, überlegte Stephan. Einige hatten noch bis zur Nacht der Belagerung gelacht.

Es war schwer für Sturm, nicht nur heute, sondern jeden Abend.

»Wo ist denn dein Banner, Feuerklinge?« zischte ihm Derek Kronenhüter spöttisch zu. Er war der Neffe des großen Schwertkämpfers und unermeßlich stolz auf seine Familienbande, auch wenn er bis jetzt nicht bewiesen hatte, ob er mit seinem legendären Onkel mehr als Blut und Namen gemein hatte.

Derek grinste höhnisch, doch seine dicken Kumpane, lauter Anhänger der Kronenhüter von Nebelhafen, unterdrückten ihr Lachen. Zwei von ihnen starrten nervös zur großen Tafel hinüber, wo die versammelten Fürsten ganz in Erinnerungen und Rituale vertieft dasaßen, vom ältesten Sagenmeister und Berater bis zu den jüngsten Kriegsführern wie Gunthar und Bonifaz. Als sie sich versichert hatten, daß die Blicke ihrer Herren anderswo weilten, stimmten sie jedoch in das feixende Gelächter ein.