Ein greller Schmerz zog durch Sturms linken Arm, als sich der schwarze Dorn in seine Schulter senkte, genau dort, wo Vertumnus ihn zur Julzeit verwundet hatte. Er unterdrückte einen Schrei, ließ seinen Schild fallen und jagte seinem Schwert nach, während die Keule des Eichenwesens hinter ihm auf den Boden krachte und die Erde erbeben ließ. Von soviel Schrecken wachgerissen, ertönten überall im Wald um sie herum das ohrenbetäubende Schnattern der Eichhörnchen und die lauten, durchdringenden Schreie von Habicht und Eichelhäher.
Mit der rechten Hand umklammerte Sturm den Griff seiner Waffe und stellte sich wieder seinem Gegner. Auf der schattigen Lichtung wirkte das Wesen fern und versteckt, als hätte es den Wald aufgerufen, es zu umgeben. Auf schwankenden Beinen, die linke Hand vor Schmerzen nutzlos, seine Schulter von einem abgebrochenen, schwarzen Dorn geschwächt, hob Sturm sein Schwert und erwartete den Angriff seines Feindes.
Doch das Eichenwesen stand still. Regungslos hielt es seine Waffe hoch. Plötzlich sah es aus wie eine riesige, vielarmige Spinne, deren dünne Glieder sich in der Windstille jetzt nicht mehr regten. Verwirrt machte Sturm einen Schritt auf das Ding zu, als der Lärm im Wald sich allmählich legte. Langsam erhob er sein Schwert, ohne die Krone und die Blätter des Baums aus den Augen zu lassen. Noch ein Schritt und noch einer…
Und die Wurzeln stießen durch die Erde nach oben, wanden sich um seine Knöchel und hielten ihn fest. Dann näherten sich langsam die Äste, während die trockenen Blätter wie eine Todesrassel zitterten.
Sturm schlug mit dem Schwert nach den Wurzeln, doch mit der rechten Hand war er unbeholfen und lange nicht so stark. Wenn eine Wurzel zerriß, schoß eine neue an ihrer Stelle hoch, und Sturms Schläge wurden schneller, hektischer und gefährlicher. Voller Panik hob er erneut sein Schwert, blieb jedoch damit in den Ästen hängen, die sich inzwischen über ihn gesenkt hatten. Er zog die Hand zurück, ließ das Schwert in den dicken, gedrehten Zweigen hängen und zerrte, außer sich vor Angst, mit bloßen Händen an den ihn festhaltenden Wurzeln.
Gerade als die Zweige und Wurzeln ihn ganz bedecken wollten, als ein grüner Zweig sich um seinen Hals schlang und zuzog, griff Sturm verzweifelt nach dem Schwert über sich. Er fühlte schon, wie ihm die Luft und das Leben abgedrückt wurden, als seine Hand den Handschutz erreichte, und mit der Stärke eines Ertrinkenden riß Sturm die Waffe aus den Zweigen und stieß sie keuchend und schreiend bis ans Heft in das dunkle Herz des Baumhirten.
Das Wesen stieß einen trockenen, kratzenden Schrei aus, und die Äste, die Sturm festhielten, zitterten einen Augenblick. Doch das Herz des Monsters war hohl und verfault, so daß die Äste sich wieder enger zogen und mit erneuter, verdoppelter Kraft Sturms Hals und Brust umschlangen. Die Wunde in seiner Schulter pochte, sein Wille ließ nach, und die Furcht in seinen Gedanken wich der großen Müdigkeit des Ertrinkens und dann einem tiefen, traumlosen Schlaf.
Bevor er das Bewußtsein verlor, lächelte er, weil alles so sinnlos war. Es ist wie in einem alten Waldmythos, dachte er. Jetzt bin ich so weit gekommen, nur um von einem Dorn im Fleisch erledigt zu werden.
Dann zerbarst die Welt um ihn herum und knisterte in silbergrünem Licht. Er sah und spürte nichts mehr. Man würde ihn am Fuß des verdammten Baums finden wie ein geheimnisumwittertes Opfer aus alter Zeit.
Mara rannte blind durch den dichter werdenden Wald, ohne auf Hindernisse oder Gefahren zu achten. Dreimal sah sie schimmerndes Schwarz über sich zwischen den Bäumen aufblitzen, hörte das klare, vertraute Gepfeife und Geplapper mit seinem drängenden, unheilvollen Unterton. Jedesmal drehte sie sich zu dem Geräusch hin und rannte darauf zu, doch die Spinne war dann – außer sich vor Panik – schon anderswo und ließ sie mit ihren schlimmsten Befürchtungen allein.
Sie rannte weiter und machte sich immer mehr Sorgen, während sich das Blattwerk um sie schloß. Vor ihr erhob sich wieder der Schrei, diesmal schrill und anders. Endlich sah sie ihn auf den Blättern einer sonnenüberströmten Lichtung zappeln. Auf seinem Rücken klaffte eine tiefe Wunde. Zwei Beine hielt er in groteskem Winkel abgespreizt, während er vor Schmerzen schrie und versuchte, sich im Stamm einer hohlen Eiche zu verkriechen. Mara rannte zu der Spinne hin und berührte sie. Entsetzt fuhr Cyren herum und wölbte seinen zerschmetterten Rücken in verzweifelter, sinnloser Verteidigungspose.
Als er Mara sah, ergab sich etwas in der Spinne jenem dunklen Wesen, das ihn eine Meile durch den mittäglichen Wald gejagt hatte. Langsam, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern, das so alt war wie das Gedächtnis seiner ganzen Art, legte sich Cyren hin. Die Blätter um sie herum knisterten von seinem Zittern und Zucken.
»Cyren«, sagte Mara hilflos, die wieder ihre Hand nach dem Tier ausstreckte. Sie war keine Heilerin, keine Gelehrte, aber sie kannte sich im Wald aus, kannte den Winter und wußte, wann der Tod gekommen war. Tapfer drängte sie ihre Tränen zurück und legte der Spinne ihren Mantel über den Rücken, obwohl sie nicht wußte, ob das überhaupt bequem für Cyren war.
Die Spinne sah sie in ihrer häßlichen Unschuld an, und einen Augenblick kam es ihr fast so vor, als ob sie zwischen den Fängen und den unzähligen Augen ein beruhigenderes Gesicht ansähe – das verlorene Gesicht von Cyren, dem Elfen, das ihr vor drei Jahren durch Zauberei gestohlen worden war und bald für immer verloren sein würde, da der Tod mit seinem kalten Vergessen nahte.
»Es wird alles gut«, tröstete Mara ihn verzweifelt und schlang ihre dünnen Arme um die verletzte Mitte des Tiers. »Sturm wird das… das Ding da hinten kaputtmachen, und wir werden unsere Aufgabe im Südlichen Finsterwald erfüllen. Alles wird gut, Cyren Calamon, und die Nacht der Monde wird für uns kommen.«
Sie wußte nichts mehr zu sagen. Wie betäubt saß sie unter der Eiche und merkte erst nach einer ganzen Weile, daß sie nicht den Körper einer Spinne hielt, sondern den eines zu Tode getroffenen Elfen.
»Mara«, hauchte Cyren, dessen Stimme immer noch ein wenig wie eine Spinne klickte. Mit großen Augen sah sie ihn an, und tief in ihrem gebrochenen Herzen flackerte eine kurze Freude auf.
»Ach, Cyren«, staunte sie. »Du bist… du bist zurück. Wenn auch – «
Sie brach sofort ab, weil sie ihre vom Kummer ausgelösten Worte bereute. Doch Cyren lächelte und berührte sanft ihr Gesicht mit seiner verletzten Hand.
»Wenn auch nicht für lange? Ja, Mara. Etwas ist jedenfalls… richtig an dieser Gestalt. Ich wäre nichts lieber als Cyren, der Elf, auch wenn er wirklich an der Schwelle zum Tode steht.«
Weinend wiegte Mara seinen Kopf.
»Das Grausamste ist«, sagte sie, »daß du nur wieder du selbst bist, um zu sterben.«
Cyren lachte bitter, doch sein Atem ging feucht und angestrengt.
»Nein, liebe Mara, das ist noch nicht das Allergrausamste. Denn du mußt wissen, ich bin nicht ich, sondern ein Zauber, der über das Wesen gelegt wurde, das drei Jahre lang in seiner gewohnten, natürlichen Gestalt mit dir gezogen ist.
Ich bin von Natur aus eine Spinne, Mara, bin als Spinne geboren und werde wohl auch als Spinne sterben. Aber es gab… zwei kurze Zeiten, in denen ich anders war: die eine in Qualinost, vor drei Jahren, und die andere… die andere jetzt.«
Fassungslos legte Mara ihren Kopf an den Baumstamm. Die Lichtung drehte sich über ihr, und sie mußte sich Mühe geben, nicht die Besinnung zu verlieren. Inzwischen erzählte der Elf – die Spinne – in ihren Armen die mitleiderregende Geschichte, wie der böse Zauberer Calotte ihn aus seinem Netz im Wipfel einer dicken, schwarzblättrigen Eiche gezogen hatte, um ihn so lange einzusperren, bis er seine schreckliche Magie ausüben konnte.