Выбрать главу

»Schleppt sich dahin«, erwiderte Diona, deren weiße Finger an Sturms Hals glitten, um dort sachte den Puls zu fühlen. »Er hat viel durchgemacht und eine schlimme Wunde eingesteckt. Seine Lebenskraft schwindet dahin.«

»Mach ihn los, Jack«, befahl Vertumnus.

»Wie du willst, Vater«, antwortete Jack gehorsam mit einem deutlichen Zwinkern zu den Dryaden, die rot wurden und sich abwandten. »Auch wenn ich nicht weiß, was du mit ihm willst. In Sturm kämpfen Edelmut und Dummheit miteinander, und ich könnte dir nicht sagen, was davon die Oberhand hat.«

»Du fließt wie Wasser durch die beiden Welten, Jack Derry«, rügte ihn Vertumnus nachsichtig. »Du weißt nichts vom zerrissenen Herzen.«

»Scheint so, daß dieses… Baummonster sein Herz fast richtig zerrissen hätte«, stellte Jack trocken fest, als er die Wunde an Sturms Schulter berührte.

»Der Baumhirte unterscheidet nicht zwischen Gut und Böse, zwischen Mensch, Elf und Oger, zwischen Freund und Feind«, erklärte Vertumnus ungeduldig. »Und doch ist er einer von uns und kein Monster. Das wußtest du schon als kleines Kind, Jack. Es hat sich nicht geändert, seit du fort warst.«

Vertumnus sagte nichts weiter. Während er zusah, wie Jack Sturm von dem zertretenen Boden hochhob, machte er eine nebensächliche, fast unbewußte Handbewegung und hatte die Flöte wieder in der Hand.

»Ich schätze«, sagte Jack, der den jungen Solamnier auf die Schultern nahm, »es wäre gar nicht so schlecht, wenn Sturm hier bei uns bleiben würde. Ich müßte ihm allerdings viel beibringen.«

Vertumnus schnaubte. »Er könnte dir auch einiges beibringen, Jack Derry, was Anstandsregeln, Staatswesen und andere Dinge angeht. Du bist in die Höhe geschossen, mein Sohn, aber mit fünf Jahren ist man erst ein grüner Baum und auch ein grüner Junge.«

»Am Hof von Solamnia«, neckte Jack, »würde ich mit fünf noch herumstolpern, mit Spielzeug spielen und bei der kleinsten Kleinigkeit heulen, wie es der da bestimmt getan hat.«

»Er hat nichts davon getan«, sagte Vertumnus ruhig. »Selbst mit fünf Jahren.«

»So lange kennst du ihn schon?« fragte Jack. »Dann kanntest du ja bestimmt diesen… seinen berühmten Vater.«

»Das war in einem anderen Leben, einem anderen Land«, erwiderte Vertumnus träumerisch, während er die Flöte in seinen Händen drehte. Die Raben ließen sich zu seinen Füßen nieder, wo sie aufmerksam herumhüpften und neugierig das helle, glitzernde Ding in der Hand des grünen Mannes anstarrten. »Aber ich kannte Angriff Feuerklinge. Hab’ in Neraka unter ihm gedient und bis dann sein Schloß belagert wurde.«

»Was wurde aus Angriff Feuerklinge?« fragte Jack Derry. »Hat der Junge gelobt, ihn zu finden?«

»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht«, sagte Vertumnus und hob die Flöte.

»Warum bringst du ihn dann zu uns, zerrst ihn an seiner grünen Wunde her?« fragte Jack irritiert. »Du weißt nichts über seinen Vater und – «

»Aber von wem sein Vater verraten wurde, das weiß ich«, sagte Vertumnus. »Warum Agion Pfadwächter und die Verstärkung Schloß Feuerklinge nie erreichten, wissen die Solamnier längst, aber wer den Hinterhalt ermöglicht hat…«

»Und du willst Feuerklinge bei seiner Rache helfen?« fragte Jack.

»Nichts läge mir ferner«, erwiderte der Herr der Wildnis gemessen. Und er setzte die Flöte an die Lippen und spielte und erinnerte sich.

Als Vertumnus spielte, kräuselte sich das Wasser vor ihm. Ganz in seine Gedanken und Erinnerungen verloren, beschwor er einen fernen Winter herauf, eine Zeit der Ankunft, als Lady Hollis ihn aus einem düsteren Schlaf zurückgeholt hatte.

Er hatte nie genau gewußt, was eigentlich geschehen war. Er erinnerte sich an das mitternächtliche Treffen von ihm und Fürst Bonifaz mit den Banditen, erinnerte sich an sein Entsetzen, als Geld und Geheimnis vom Ritter zum Räuber gewandert waren. Er erinnerte sich an das Nachspiel, wie man ihn beschuldigt hatte, den Orden verraten zu haben, wie er nachts seiner Wache entwischt war, erinnerte sich an den Winter und den Marsch. Die sicheren Mauern hinter ihm verschwanden, und der Schnee vor ihm war wie ein Vorhang, als er blind und verrückt einen Weg nach Osten suchte, eine freie Straße nach Lemisch. Nach Hause.

Überall war es kalt, und das Schneegestöber tobte gnadenlos, und der Wind blies so laut, daß er bald Stolz und Sicht und Verstand verlor.

Er erinnerte sich an das Fackellicht im fernen Lager, und wie das Licht durch Dunkelheit und Schnee gewachsen war, bis es ihm wie ein Mond oder eine Sonne vorgekommen war, nicht wie der Tod, den er dort eigentlich befürchten mußte. Er erinnerte sich, wie er in den Lichtschein getreten war, wie zerlumpte Männer ihn von allen Seiten angegriffen hatten, an die Flüche und die Schläge auf seinen Kopf, dazwischen die wütenden Silben seiner Muttersprache. Trotz der niederprasselnden Schläge von Stock und Keule und harter Faust hatte er antworten wollen, doch dann hatte sich der plötzliche Schlag auf seine linke Schulter gesenkt, und der scharfe, schwarze Schmerz hatte über seinem Herzen zugestochen… Die Welt war plötzlich weiß geworden, dann dunkel. Dann nichts mehr.

Und schließlich erinnerte er sich an diesen Ort. Als er wach wurde, hockte eine alte Hexe über ihm, die einen langen, heilenden Spruch sang. Er erinnerte sich an jedes einzelne der vielen Worte, denn so wie sie sang, brachte jedes einzelne Wärme in seine Glieder und Atem in seinen gelähmten Körper. Und mit jedem Wort fiel ein Jahr von dem Gesicht der Sängerin ab, und sie erlangte eine verlorene, unvergleichliche Schönheit wieder – Mandelaugen, braune Haut und schwarzes Haar, das glänzte wie der Winterhimmel.

Langsam und voller Schmerzen hatte er sich bewegt – erst einen Finger, dann eine Hand. Er hatte in das Gras unter sich gegriffen, einen Grashalm abgepflückt, dann noch einen. Aber er war noch zu schwach. Seine Hand konnte er nicht heben. Also schloß er die Augen und ruhte in der sicheren Obhut der Frau und ihres Liedes. Er sah nichts als Grün und Grün, und als er einschlief, träumte er von Blättern und Frühling und Wurzeln tief in der Erde.

Es schien hundert Jahre her zu sein. Es schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Und doch war er hier im Südlichen Finsterwald, Gefährte von Dryaden und Eulen und dieser schönen, geheimnisvollen Frau. Sie hatte ihm sein Leben geschenkt, hatte ihn zum Blühen gebracht. Sie hatte ihm die Flöte und das Wissen um die Weisen gegeben.

Und jetzt gab es andere – andere, die sein Leben und sein Reich bedrohten. Inzwischen kannte er sie und konnte ihnen vergeben. Aber Vergeben hieß nicht Ergeben: Der Finsterwald wuchs in seinem Blut und war unwiderruflich sein.

Sein Lied war vorüber und stieg durch die mondhellen Zweige der Vallenholzbäume auf. Langsam, fast liebevoll, beugte sich Vertumnus über den Jungen, der auf den Karren gebettet war, und flüsterte Sturm etwas zu, das niemand, nicht einmal die Dryaden, hörte.

Jahre später, im Turm des Oberklerikers, in der Kälte des späten Februars, würde Sturm sich im Schlaf dieser Worte entsinnen. Beim Aufwachen würde er sie nicht aus dem nebligen Land seiner Träume mitbringen und auch nicht lange nachdenken, um sich zu erinnern, denn Derek würde am finsteren Tag zuvor scharenweise Ritter in das Gemetzel geführt haben, und der Morgen würde von Waffengeklirr und Vorbereitungen erfüllt sein.

Doch die Worte waren einfach. »Du kannst wählen«, hatte Vertumnus gesagt. »Letzten Endes kannst du immer wählen.«

»Er wird es doch überleben, Vater?« fragte Jack besorgt. Evanthe schob ihren Arm in seinen und küßte ihn frech mit aufgeworfenen Lippen hinter das Ohr.

»Auf die eine oder andere Art wird er überleben«, erklärte Vertumnus. »Wenn die Lady ihn gut pflegt. Jetzt sing, Evanthe. Diona, sing mit deiner Schwester. Während wir den Jungen zu Hollis bringen, singt ihr das Lied des Waldes.«

Mit plötzlicher Durchtriebenheit drehte er sich zu Jack um: »Du singst auch, Jack. Du hast die schöne Tenorstimme deines Vaters genau wie seine Schwerthand. Solltest du jedenfalls, denn seine Hand und Stimme lassen nach.«