Denn wenn ein Ausdruck nichtssagend sein kann, ohne Angst, Entsetzen und Hoffnung, wenn er überhaupt nur noch Niedergeschlagenheit und Entschlossenheit enthält, dann war das Brecas Ausdruck und der seiner Gefährten, der aussagt: »Es ist nicht so schlimm, wie ich mir das vorgestellt habe, aber schlimmer, als ich erwartet habe.« Und nichts weiter sagte dieser Ausdruck, während sich die unheilvollen Tore öffneten… »Keine Angst, Sturm«, flüsterte Vertumnus, dessen Augen sich drehten wie Monde, die aus ihrer Umlaufbahn geschleudert wurden. »Ich bin bei dir. Verstehst du, Sturm? Verstehst du es jetzt?«
»Ich… ich glaube«, sagte Sturm in den glitzernden Blick des Herrn der Wildnis. »Nämlich… daß sogar Eid und Maßstab von… von Wahnsinn verraten werden können.«
»Nein«, sagte Vertumnus, dessen Stimme wie ein Flüstern durch Sturms Gedanken ging. »Das ist noch nicht alles.« Wieder lächelte er, doch dieses Mal böser. »Du siehst… Eid und Maßstab sind der Wahnsinn!«
Vertumnus packte Sturm an den Schultern und drehte ihn zu der Armee hin, die sich unter ihnen zusammenscharte. »Das sind die, die der Maßstab umbringt«, flüsterte er eindringlich, als die Soldaten unsicher ihre Waffen ausprobierten. »Das ist das Blut, auf dem deine Ehre schwimmt, es sind die Knochen, auf denen dein Kodex steht. Dieses riesige solamnische Spiel ist immer bei uns, so einfach und vergiftet wie unser eigenes, stolzes Herz!«
So spricht ein Verrückter, dachte Sturm, der aus dem Traum in eine beunruhigende Dunkelheit fiel. Sturm würde nie erfahren, wie lange er geschlafen hatte.»Nun gut«, erklärte die Druidin.
Der Nachmittag war in Abend übergegangen. In der Ferne war der Wald von den Rufen der Nachttiere erfüllt, und über der Lichtung glänzten die ersten Sterne: die grüne Harfe von Branchala und der rote Sirrion, der wie eine brennende Galeere in die Weite des Himmels trieb.
Hollis sah zu Vertumnus hoch. Ihr Gesicht war noch jünger als zu Beginn der Heilung. »Er hat die ersten zwei Träume überlebt. Der dritte ist leicht, wenn er den Willen und den Mumm dazu hat.«
»Keiner von ihnen ist leicht, Hollis«, erwiderte Vertumnus mit merkwürdigem Lächeln. »Du bist nicht aus Solamnia, darum erscheint dir der Traum der Wahl leichter als die anderen. Tatsächlich aber ist es für Sturm der schmerzlichste.«
In der Ferne fing die Lerche zu singen an. Hollis nickte ernst und berührte Sturms Augenlider mit einer Rose, die zwei Blüten hatte – die eine rot, die andere grün wie ein Blatt. Vertumnus begann, auf der Flöte zu spielen, und während er das tat, schob sich der silberne Solinari über die Lichtung und ließ die Blätter des Vallenholzbaums und der Eiche, die Stechpalmenkrone der Druidin und die grünen Locken des Herrn der Wildnis glitzern.
20
Der letzte Traum
Das Vogelgezwitscher erklang durchdringend schrill über ihm – Eichelhäher und Sperling, die abfallenden Töne des Rotkehlchens und hoch über allem das Lied der Lerche, das seine Ohren noch verfolgte, als er sich bewegte und der Gesang erstarb.
Sturm setzte sich auf und sah sich um. Er war an dem Ort, zu dem sie ihn gebracht hatten, so viel erkannte er in seinen fiebrigen, unruhigen, wachen Momenten. Da war der Teich, da die Eiche, da die grasbewachsene Lichtung in der Sonne, aber Vertumnus und seine Begleiter waren verschwunden – kein Jack Derry, keine Dryaden, keine Druidin. Sturm lag allein unter der Eiche. Schwert und Rüstung lagen säuberlich neben ihm wie eine leere Schale oder ein verlassener Kokon.
Er streckte die Hand aus und berührte den Brustharnisch. Der bronzene Eisvogel war unnatürlich warm, und er war grün angelaufen, als hätte die Rüstung lange niemand mehr poliert. Nachdenklich zog Sturm den Schild heran. Er zwinkerte, als ihm das vom Staub gedämpfte Sonnenlicht aus der eingedellten Wölbung in die Augen fiel.
Plötzlich hustete jemand hinter ihm. Er zuckte vor Schreck zusammen und fuhr herum.
Am Rand der Lichtung stand Ragnell, deren dunkle Augen ihn fixierten.
»I-Ihr!« rief Sturm und griff nach seinem Schwert. Augenblicklich wies er sich zurecht. Schließlich war sie eine alte Frau, und der Maßstab verbot –
»Meine Absichten sind friedlich«, erklärte Ragnell. »Friedlich, aber lehrreich.«
»Ich… ich war wohl verwundet«, meinte Sturm. Das Licht tat in seinen Augen weh, und die Lichtung verschwamm und drehte sich. »Ich war wohl… wohl…«
Ragnell nickte. »Sieben Tage«, sagte sie. »Du hast eine ganze Woche geschlafen. Und gewiß hast du geträumt. Bedeutsame Träume von Dingen, die geschehen werden, die du Prophezeiungen nennen könntest, ich aber eher als Vorahnung ansehen würde…«
Ihre Worte verwirrten ihn, doch ihre Stimme sprach langsam und eindringlich. Sie schlich sich so heimlich wie Unkraut in Sturms Gedanken, bis er nicht mehr sicher war, ob er die Worte dachte oder ob sie sie sagte. Er schüttelte den Kopf, um diese Stimme loszuwerden. Als das fehlschlug, wollte er aufstehen.
»Ich bin immer noch verwundet«, sagte er mit trockener, atemloser Stimme.
»Natürlich bist du das, Sturm Feuerklinge«, gab die Druidin zurück. Ihr braunes, runzliges Gesicht zeigte keine Regung. »Der Dorn ist immer noch in dir, tief in deiner Schulter, neben deinem Herzen.« Ragnell beobachtete ihn prüfend. »Schau mal deine Hände an«, wies sie ihn an.
Sturm gehorchte und hielt vor Schreck die Luft an. In seinen Adern floß Grün. Auch seine Fingernägel waren grün. Seine Hände waren dunkel und lederartig wie die des Herrn der Wildnis.
»Was…«, setzte er an, aber Ragnells Stimme erklang unwiderstehlich in seinem Hinterkopf und legte sich wie dicke, fesselnde Ranken über seine Gedanken.
»Er erwachte…«, begann die Stimme, und die Lichtung verschwamm im Nebel und ließ nichts mehr zurück als die Frau und das schimmernde Wasser und die Nacht. Plötzlich stieg hinter ihr der weiße Mond auf, dessen Licht eine feine Korona um ihre grünen, bauschigen Roben legte. Sturm bäumte sich wütend auf, weil er endlich erkannte, daß er immer noch träumte.
Aus der Wunde in seiner Schulter sickerte es grün, dann violett, dann tiefschwarz, bis sich die Farbe nicht mehr veränderte, während der Saft herausströmte und gerann. Sprachlos schaute er seine Hände an. Anstatt von dem Blutverlust oder Saftverlust – oder was auch immer aus seiner Schulter floß – blaß zu werden, leuchteten sie nun in einem Hellgrün, das jedes Licht zurückwarf.
Ragnells Aussehen veränderte sich, als sie langsam, aber stetig auf ihn zukam. Aus der weisen Alten, die schurkenhaft und verschlagen gewirkt hatte, wurde eine wunderschöne Frau – schwarze Haare, dunkle Haut und dunkle Augen, und sie lächelte so freundlich, daß es sein Herz berührte. Er fiel auf die Knie, denn er wollte nur noch bei ihr sein, auch wenn er nicht hätte sagen können, ob er als Kind oder als Mann geliebt werden wollte.
Das ist eine Versuchung, dachte er, als er durch den grünen Stoff die weiche Linie ihrer Brüste sah. Das macht der grüne Mann. Eine Falle. Ich soll… soll…
Ich weiß nicht, was ich soll, außer daß ich widerstehen muß.
Die Luft duftete nach Zedern, und irgendwo jenseits von Nacht und Mondlicht und Gedanken erhob sich wieder der Klang der Flöte.
Vielleicht ist das die letzte Versuchung, dachte Sturm. Vielleicht wartet hinter diesem Traum Vertumnus, und die Suche ist endlich vorbei.
Die Frau blieb stehen und zog ihre Hand zurück. Sie verschränkte die Arme über der Brust, und ihre Lippen bewegten sich, um Worte zu formen, die durch Sturms Gedankenwelt zogen. Aber er konnte nicht sagen, daß er sie hörte, und es war auch nicht Ragnells Stimme, die da sprach, sondern eine tiefere, vertraute Stimme, die ihn an irgend jemanden erinnerte.