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Es war eine Männerstimme, und sie beschwor etwas herauf, das mit Schnee und Mitternacht und eiligem Aufbruch zu tun hatte.

Sturm machte die Tunika auf und untersuchte die Wunde in seiner Schulter. Der Dorn war tief, zerfranst und häßlich neben seinem Brustknochen eingedrungen. Erschrocken sah Sturm, daß er immer tiefer eindrang. Bald würde er nicht mehr zu sehen oder zurückzuholen sein, in seinem tiefsten Inneren versinken und dort den letzten, unheilbaren Schaden anrichten.

Ragnell beugte sich herunter und berührte die Wunde. Sturm schrie auf und schlug ihre Hand weg.

»Nein!« rief er aus. »Dieser Wald hat mir genug angetan! Ihr habt viel Schlimmes angerichtet – bei mir, beim Orden und bei meinem Vater während der Belagerung von Schloß Feuerklinge!«

Die Druidin schüttelte langsam den Kopf. Sie lächelte. »Viele Ritter von Solamnia fielen in jenem – ›Aufstand‹, wie ihr es nennt. Aber dein Vater war ein anständiger Mann, und ich habe ihn nicht getötet.«

»Dann… dann…« Sturm wollte etwas entgegnen, aber die Lichtung um ihn herum verschwamm vor seinen Augen, und er taumelte und sackte auf die Knie.

Ragnell hielt den Jungen vorsichtig an der Tunika fest, aber er riß sich los.

Ragnell lächelte unglaublich lieblich. »Nun denn«, sagte sie still und strich mit der Hand über die Wellen. »Wenn ich eine Versuchung bin, dann wollen wird doch mal sehen, wozu.«

Bei ihrer Berührung wurde der Teich still, und umrahmt vom weißen Mondlicht sah Sturm sein seltsam verwandeltes Spiegelbild – ein dunkler Bursche ganz in Grün, voller Blätter und Ranken, das Haar taubenetzt und von Stechpalme und Lorbeer geschmückt.

»Bei Huma!« fluchte er. »Das ist Jack Derry!«

»Nicht Jack Derry, sondern du«, verkündete die Druidin. »Es ist dein übertragenes Ich, Sturm Feuerklinge. Jenseits von Eid und Maßstab in den Tiefen deines Wesens.«

»Noch ein Druidentraum!« widersprach Sturm verächtlich und wandte den Kopf von dem Spiegelbild ab.

»Und… und das liegt in meinem tiefsten Inneren?« fragte Sturm.

Ragnell legte ihm die Hand auf die Schulter. Ihr Spiegelbild tauchte im Wasser auf – uralt und gebeugt neben seinem knienden Baumabbild.

»Das und noch viel mehr, Sturm Feuerklinge«, sagte sie. »Eine große Weisheit jenseits von Eid und Maßstab. Aber du hast die Wahl. Ich kann den Dorn entfernen oder… ihn in Musik verwandeln.«

»In Musik?«

Die Druidin nickte. »Eine innere Musik, die dein geteiltes Herz wie die Nadel eines Schneiders durchstechen und zusammenziehen wird, um es zu etwas Ganzem zu machen, dem nichts mehr etwas anhaben kann. Die Musik wird dich den Rest deines Lebens begleiten und dich von Grund auf verändern. Oder ich kann den Dorn entfernen.«

Sie beugte sich vor und wirbelte das Wasser im Teich auf. »Es ist auf jeden Fall deine Wahl«, drängte sie.

Sturm schluckte.

»Wähle«, drängte die Druidin. Sie zeigte auf die Wunde in seiner Schulter. Während sie gesprochen hatte, hatte sich der Dorn noch tiefer in Sturms Fleisch gebohrt. Jetzt lag er zwischen Muskel und Knochen. Sturm konnte den Arm kaum bewegen. Bis zum Ellenbogen war er jetzt grün, und die Farbe stieg langsam höher.

»Er wird tiefer eindringen und tödliche Arbeit leisten«, erklärte Ragnell. »Keine Angst vor der Musik. Bald, Sturm Feuerklinge, bist du Teil des Waldes und des gewaltigen Grüns des Mittsommers.«

»Nein!« schrie Sturm. Über ihm hörte er die schrillen, erschreckten Rufe aufgescheuchter Vögel. »Entferne den Dorn, Ragnell!«

»Wenn ich das tue«, drohte die Druidin, »siehst du deinen Vater nie wieder.« Sie drehte sich um und ging zum Rand der Lichtung.

Sie lügt, dachte Sturm, der ihr folgte. Sie lügt. Und Caramon und Raistlin waren auch nicht im Turm der Erzmagier, und Vertumnus war nicht auf den Mauern des Rittersporn. Sie ist ein Traum, und sie lügt, und diese ganze Traumdeuterei ist einfach dumm, und ich sollte…

»Ragnell!« schrie er. Tief in dem dicken, blauen Ewigkeitsbaum hinter ihr huschte etwas eilig davon. »Hol den Dorn aus meiner Schulter!«

»Nein.« Ihre Antwort kam leise und unsicher.

»Ich kann wählen«, sagte Sturm triumphierend. Die Worte entfuhren ihm schnell und prompt und sicher, und einen Augenblick lang dachte er, es wären nicht seine eigenen. »Schließlich«, sagte er, »kann ich wählen.«

»Das kannst du, Sturm Feuerklinge«, pflichtete ihm die Druidin nach einer langen Pause bei. Das Flötenlied wich dem einsamen Gesang einer einzelnen Lerche, und gleich darauf war auch diese Musik verklungen. »Dann nimm dein Schwert und deinen Eid und Maßstab.«

Sie drehte sich zu ihm um, und mit einem merkwürdig traurigen Blick griff sie ihm an die Schulter und entfernte den Dorn.

»Die Kraft kehrt sofort zurück«, sagte sie, als alles – Dorn und Druidin, Teich und Lichtung – vor den Augen des erstaunten Jungen zu verschwinden begann.

»Und du mußt nie wieder wählen.«Mara trug den Körper der Spinne zu einem kleinen Hügel am Rand des Waldes, wo die Bäume dem Gras, den Steinen und dem Mondlicht Raum gaben und wo man durch das dünner werdende Blattwerk im Westen die Lichter von Dun Ringberg sehen konnte.

Für ein so großes Wesen war Cyren überraschend leicht. Es war, als hätte die Spinne bei ihrem Tod nur eine dünne, papierartige Hülle zurückgelassen, wie einen zerbrochenen Kokon oder eine Krebsschale.

Seine Beine waren jetzt schon trocken und brüchig.

Mara wußte kaum, wohin sie ihn trug, und noch weniger, weshalb sie das tat. Der Wald um sie herum war laut drohend und dunkel, voller Grunzen und Pfeifen und knackendem Unterholz. Sie kletterte über einen umgestürzten Ahorn, dann durch ein Dornendickicht, das ihr die Haut zerkratzte und an ihren Kleidern zerrte.

Sehr selten schien Mondlicht durch die Zweige. Dann konnte Mara zum offenen Himmel hochschauen, zu den Sternen im immer dunkleren Violett der Nacht.

Es war, als hätte sich der Wald gegen sie verschworen, als wäre alles in ihrem Elfenblut voll Angst und in der Schwebe. Immer wieder knurrte es rauh und unvertraut im Unterholz, etwas Gieriges, Verwundetes, Zorniges. Kurz darauf kamen dann wieder ein paar kurze, silberne Flötentöne aus der Nähe, so schön und vielsagend, daß sie dachte, sie hätte das Lied geträumt. Mehr als einmal hätte sie am liebsten den toten Cyren zurückgelassen und wäre ins Freie gestürmt, wo sie Licht und kühler Wind erwarteten. Wäre am liebsten einen Vallenholzbaum bis zum Dach des Waldes hinaufgeklettert, wo der Himmel sich auf tun würde.

Und die ganze Zeit weinte sie.

»Zauberei!« murmelte sie bitter, als sie das Tier um eine flache Felsnase schleppte. »Das ist doch genau verkehrt rum. Prinzen und Könige werden in Frösche oder Vögel oder zu Stein verwandelt oder müssen hundert Jahre schlafen. Die alten Märchen lügen, denn offenbar kann auch ein Stein, ein Frosch oder ein Vogel zum Prinzen werden. Ich war in Calottes Blendwerk verliebt.«

Auf einmal fand sie die ganze Geschichte komisch. Sie fing an, fassungslos zu lachen, setzte sich auf einen Stein, sah der Spinne tief in ihre vielen, trüben Augen und lachte, bis sie wieder weinen mußte.

Dann kam ihr ein unglaublicher Zufall zu Hilfe, denn sie bemerkte den schwachen Geruch von Holzrauch in der Luft, der von irgendwo rechts zu ihr herüberwehte. Wieder hob sie mühsam Cyrens Körper auf, der schwerer wurde, je länger sie unterwegs war, und trottete dem Geruch nach.

Mit der Spinne auf den Schultern kletterte sie einen Hang hoch. Das letzte, steile Stückchen überwand sie nur, indem sie ihre Füße gegen den dünnen Stamm einer jungen Weide stützte. Dann erreichte sie frische, leichte Luft und eine windgepeitschte Lichtung über dem zurückweichenden Wald.

Zärtlich setzte sie die Spinne ab. Sie kniete oben auf dem Hügel und zog ihr Messer. Konzentriert, fast ehrfürchtig, begann sie, ein Grab in den steinigen Boden zu graben. Dabei sang sie eine Totenklage aus dem Westen, die sie auf ihren Reisen mit dem Tier, das sie begraben wollte, gelernt hatte.»