Ohne zu zögern, lief Sturm zur Tür der Schmiede und machte sie auf.
Vor ihm stand Vertumnus, der mit erwartungsvollem Lächeln Hammer und Zange hielt.
Er legte sein Werkzeug hin und wischte sich mit einem rauhen, festen Tuch die Hände ab, während Sturm auf der Schwelle in der Hitze der Schmiede stand und sich zu erinnern versuchte.
Erstaunt ließ Sturm sein Schwert sinken. Plötzlich war es fast greifbar. Die Träume und seine Wahl schienen irgendwie einen Sinn zu ergeben, obwohl Sturm sie noch immer nur schwer hätte erklären können. Er wollte etwas sagen, wollte Vertumnus mit hundert Fragen bestürmen, doch der Herr der Wildnis blieb stehen und gebot mit erhobener Hand Schweigen.
»Du siehst müde und abgekämpft aus«, stellte er fest, »und ich wäre ein armseliger Gastgeber, wenn ich dir kein Brot und nichts zu trinken anbieten würde.«
»Nein, danke. Ich meine, ja. Ja, Brot wäre gut. Und Wasser.«
Vertumnus verschwand mit der Schöpfkelle in der Hand durch die Hintertür zum Brunnen. Sturm folgte ihm einfach, wobei er ungeschickterweise gegen den Amboß stieß.
»Ein grüner Junge bist du, Solamnier«, sagte der grüne Mann gut gelaunt, der Sturm auf seinem Weg zum Vorratsschrank mit dem Brot streifte. »Grün und stur, obwohl beides in diesem Fall zu deinem Besten war. Daß du so grün bist, hat dich vor Bestechlichkeit und Kompromissen bewahrt, und deine Sturheit hat dich hierhergeführt.«
»Sie hat mich scheitern lassen«, sagte Sturm verärgert, »denn der erste Frühlingstag ist bereits vergangen. Ihr seid mir entkommen, Vertumnus, und Ihr habt somit gewonnen!«
»Immer dieser Solamnier in dir, der über Formfragen jammert«, erwiderte Vertumnus fröhlich. »Ich weiß noch, daß ich gesagt habe, wenn du mich nicht zur rechten Zeit triffst, ist deine Ehre für immer dahin.«
Sturm nickte wütend, setzte sich umständlich auf die Bank in der Schmiede und nahm Brot und Schöpfkelle an.
»Daran ist nur diese Druidin schuld«, beharrte Sturm. »Ragnell hat mich drei Tage eingesperrt und mich hinterher eine Woche schlafen lassen, sonst hätte ich Euch rechtzeitig erreicht.«
Vertumnus setzte sich auf den Boden. »Durch diese Gefangenschaft warst du sicher. Du wurdest von einem gnadenlosen Feind verfolgt, und als die Herrin dich in Gewahrsam nahm… hat er die Jagd aufgegeben.«
Sturm zog verärgert die Nase hoch. Wieder dieses Märchen von Bonifaz und seiner Verschwörung.
»Und?« fragte Vertumnus, der seine Hände im Schoß faltete. Er sah aus wie eine alte östliche Statue, ein Symbol ferner Heiterkeit. »Und? Spürst du die Wunde? Den Verlust? Das Dahinsein?«
»Das… das verstehe ich nicht«, wehrte sich Sturm.
»Ich könnte mir vorstellen«, hakte Vertumnus nach, »daß du deine Ehre nicht verloren hast, falls du nicht vorhast, sie wegen eines Datums aufzugeben… Oh«, rief er aus, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen. »Ich habe doch ein Geschenk für dich.«
Vertumnus stand auf und sprang an das Regal in der Schmiede, wo er auf einen Stuhl stieg und etwas Langes, in festes Tuch Eingewickeltes herunterholte. Langsam und stolz wickelte er es aus und hielt es Sturm hin.
Es war eine Schwertscheide, deren Oberfläche wundervoll und makellos gearbeitet war. Ein Dutzend Gesichter starrten Sturm an. Sie waren in glänzendes Silber getrieben wie Spiegelbilder aus einem Dutzend Spiegeln oder die Statuen in Kastell di Caela, das jetzt Meilen und Jahre entfernt schien. Jedes Gesicht hatte seine Augen, seine Züge, und jedes war rot und grün von kupfernen Blättern und Rosen umrankt, so daß es zu lodern schien – ein Dutzend Sonnen oder Sonnenblumen oder knospende Pflanzen.
»Das ist… wirklich herrlich, Sir«, sagte Sturm still, als seine Manieren die Verblüffung überwunden hatten. Er bewunderte die Scheide aus einem gewissen Abstand und scheute sich davor, sie zu berühren. Gedankenverloren setzte er sich auf den Amboß und kniff die Augen zusammen, um das Geschick dieses Handwerkers zu bewundern. »Ich glaube, das kann nur von Wieland stammen.«
»Von seinem Meister«, sagte Vertumnus ruhig. »Niemand auf dieser Welt könnte etwas Vergleichbares fertigbringen, wenn ich das sagen darf.« Stumm hockte er sich in die offene Esse.
»Eure Zuvorkommenheit, Fürst Vertumnus, ist dem Reisenden höchst angenehm«, erklärte Sturm so förmlich wie möglich, während er die Scheide in der Hand drehte. »Und zweifellos zeugt sie ebensosehr von Eurer Ehre und Eurer Erziehung wie dieses wunderbare Geschenk.«
Aus der Ecke der Schmiede, wo Vertumnus im rötlichen Schatten an den Flammen hockte und die glühenden Kohlen mit Torf abdeckte, kam gedämpftes Gelächter.
Sturm räusperte sich und kam zur Sache. »Aber ich erinnere mich an eine Vereinbarung zwischen uns, die beim Julbankett getroffen wurde. ›Komm am ersten Frühlingstag‹, sagtet Ihr, ›in meine Burg im Südlichen Finsterwald. Komm allein, damit wir es beilegen – Schwert gegen Schwert, Ritter gegen Ritter, Mann gegen Mann.‹ Ihr sagtet, ich müßte meines Vaters Ehre verteidigen, und Ihr habt meine in Frage gestellt.«
Vertumnus nickte, doch sein geheimnisvolles Lächeln wich einem klaren, starren Ernst.
»Also zum Geschäftlichen«, flüsterte er. Nachdem er das letzte Stück Torf aufs Feuer gelegt hatte, richtete er sich zu seiner vollen, beeindruckenden Größe auf – er war einen Kopf größer als der Junge vor ihm.
Sturm schluckte. Er hatte den grünen Mann nicht so groß, so beeindruckend in Erinnerung gehabt.
»Das war nicht alles, was zwischen uns gesagt wurde«, bestätigte er. »Ihr Solamnier mit eurer Begeisterung für Regeln und Verträge solltet euch an alles erinnern, was gesagt wurde, und zwar wortwörtlich.«
»Aber ich erinnere mich ja«, gab Sturm zurück. »›Denn jetzt bin ich dir einen Schlag schuldige‹, sagtet Ihr, ›so wie du mir ein Leben schuldest.‹«
»Dann stimmt unsere Erinnerung überein«, murmelte Vertumnus. »Folg mir in den Hof der Schmiede. Dort werden wir den Bedingungen dieser Vereinbarung Genüge tun.«
Sturm legte die Scheide hin und trat aus der Schmiede in das Nachmittagslicht. Vertumnus wartete am Brunnen zwischen Laub, beschädigten Geräten und halbfertigen Ornamenten. Augenblicklich erhob sich aus der Erde um sie herum eine leise Musik, und Sturm hielt mit nervöser, gespannter Bereitschaft sein gezogenes Schwert vor sich.
»Bewaffnet Euch, Fürst Vertumnus!« drohte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Faul und katzenartig lehnte Vertumnus am steinernen Brunnen.
Und dann griff er mit schwindelerregender Schnelligkeit an. Seine grüne Hand schloß sich mit bezwingender Kraft um die Schwerthand des Jungen.
»Schwert gegen Schwert«, murmelte er und drückte fester zu.
Sturm zuckte zusammen. Ein überwältigendes, fast elektrisches Gefühl durchlief seinen Schwertarm. Sturm wollte aufschreien, die Klinge loslassen, doch die Kraft war fesselnd und gnadenlos. Fassungslos starrte er Vertumnus an, der ihm mit einem wilden, höhnischen und doch überraschend sanften Blick in die Augen sah. Aus dem Herzen des Jungen erhob sich ein unendlich süßes Gefühl, und um ihn herum war Musik – von Flöte und Tamburin und Elfencello und irgendwo mittendrin der schwache, herbe Ruf einer Trompete, den er wieder und wieder hören würde bis zu dem Tag auf den Zinnen des Turms, wenn in der Ferne die Drachenfürstin auftauchen und er hoch auf dem Rittersporn stehen und das Lied zum letzten Mal vernehmen würde, um endlich zu begreifen, was es bedeutete…
Er kniete auf dem Boden zwischen Pflugscharen, Hufeisen und verbogenen Schwertern. Vertumnus stand mit dem blitzenden Schwert in der Hand über ihm.
»Ritter gegen Ritter und Mann gegen Mann«, schloß der Herr der Wildnis ruhig.
Sturm konnte seinem siegreichen Gegner nicht in die Augen sehen.
»Die Bedingungen sind fast erfüllt«, sagte der geschlagene Junge voller Furcht. »Ihr könnt mir den Schlag geben, den ich verdient habe, und das Leben nehmen, das ich Euch schulde.«