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Dick Francis

Scherben

Kapitel 1

An dem Tag, als Martin Stukely bei einem Jagdrennen tödlich verunglückte, fuhren wir zu viert zur Rennbahn Cheltenham.

Es war Silvester 1999, der letzte Tag des Jahres. Ein kalter Wintermorgen. Die Welt an der Schwelle zur Zukunft.

Martin hatte sich gegen zwölf in seinen BMW gesetzt, ohne Böses zu ahnen, und auf dem Weg zur Arbeit seine drei in den Cotswolds wohnenden Mitfahrer abgeholt. Ein erfolgreicher, selbstbewußter Jockey, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte.

Als er zu meinem großen Haus am Hang über dem langgezogenen Fremdenverkehrsort Broadway kam, war die Luft in dem geräumigen Wagen bereits vom duftigen Rauch seiner Lieblingszigarre erfüllt, der Montecristo No. 2, die ihm das Essen ersetzte. Mit vierunddreißig verbrachte er von Tag zu Tag mehr Zeit in der Sauna, und dennoch verlor sein Stoffwechsel allmählich den Kampf mit der Waage.

Er war von Natur aus gut gebaut und hatte von seiner italienischen Mutter das lebhafte Temperament und die Liebe zum guten Essen geerbt.

Mit Bon-Bon, seiner molligen, geschwätzigen, wohlhabenden Frau lag er unaufhörlich im Streit, und seine vier kleinen Kinder beachtete er kaum, wenn er sie nicht gerade stirnrunzelnd ansah, als fragte er sich, wer sie waren. Auf der Rennbahn aber führten sein Können, sein Mut und sein Pferdeverstand ihn fast immer zum Sieg, und auf der Fahrt nach Cheltenham erörterte er nüchtern seine Aussichten in den beiden Hürdenrennen und dem längeren Jagdrennen an diesem Nachmittag. Auf den viertausendachthundert Metern über die Jagdsprünge kam seine Verwegenheit, sein kontrollierter Leichtsinn immer erst richtig zum Zug.

Mich holte er an diesem schicksalhaften Freitagmorgen zuletzt ab, da ich der Rennbahn Cheltenham am nächsten wohnte.

Neben ihm im Wagen saß bereits Priam Jones, der Trainer, für den er regelmäßig ritt. Priam war ein As in der Kunst der Selbstbeweihräucherung, aber nicht ganz so gut, wie er meinte, wenn es darum ging, die Form eines von ihm betreuten Pferdes einzuschätzen. Den Steeplechaser Tallahassee hatte mein Freund Martin am Telefon als Goldkandidaten für Cheltenham eingestuft, da er auf den Tag genau fit sei, doch Priam Jones fuhr sich über das lichte, mit den Jahren weiß gewordene Haar und teilte dem Besitzer des Pferdes in blasiertem Ton mit, Tallahassee könne sich auf weicherem Boden sicherlich noch steigern.

Lloyd Baxter, der Besitzer von Tallahassee, saß neben mir auf der Rückbank und hörte sich das wenig begeistert an, während er eine von Martins Zigarren gleichmäßig zu Asche verbrennen ließ, und ich dachte bei mir, Priam Jones hätte seine vorauseilende Entschuldigung besser für sich behalten sollen.

Es war ungewöhnlich, daß Martin Tallahassees Besitzer und Trainer durch die Gegend fuhr. Meistens nahm er nur andere Jockeys oder mich mit, aber Priam Jones hatte kürzlich seine Reifen zuschanden gefahren, als er in einem Anfall von Überheblichkeit unbedingt auf einem durch Krallen gesicherten Platz parken wollte. Nun gab er der

Stadt die Schuld und fand, sie müsse ihm den Schaden bezahlen.

Priam, so hatte Martin mir unwillig erzählt, hatte es als selbstverständlich angesehen, daß Martin den Chauffeur machte und nicht nur ihn, sondern auch den Besitzer des Pferdes mitnahm, der mit einem kleinen Charterflugzeug, das jetzt auf dem Flughafen Staverton stand, von Nordengland gekommen war und bei ihm übernachtet hatte.

Ich konnte Lloyd Baxter so wenig leiden wie er mich. Martin hatte mir von Priams Reifenpanne erzählt (>Hüte deine Lästerzunge und blende ihn mit deinem Lächeln<) und mich gebeten, den millionenschweren, ewig verdrießlichen Besitzer nach Kräften einzuseifen für den Fall, daß sich Priam Jones’ Befürchtungen bewahrheiteten und das Pferd leer ausging.

Ich sah Martin im Rückspiegel grinsen, als ich mein Mitgefühl wegen der platten Reifen bekundete. Man hatte mir für ein Jahr den Führerschein entzogen, nachdem ich mit hundertsechzig Sachen über die Oxforder Ringstraße gerast war, um Martin, der ein gebrochenes Bein hatte, zu seinem todkranken ehemaligen Gärtner zu bringen, und dafür dankte er mir jetzt, indem er mich mit dem Auto herumfuhr, wann immer er konnte. Das wacklige Herz des Gärtners hatte dann, wie das Leben so spielt, noch sechs Wochen durchgehalten. In einem Vierteljahr würde ich meinen Führerschein zurückbekommen.

Die Freundschaft zwischen Martin und mir, zwei auf den ersten Blick eher gegensätzlichen Typen, war vor gut vier Jahren aus heiterem Himmel durch ein Lächeln ausgelöst worden, oder vielmehr durch die Lachfältchen, die ich an seinen — und er offenbar an meinen — Augen gesehen hatte.

Wir hatten uns als Geschworene bei der Verhandlung eines unkomplizierten Falls von Gattenmord am hiesigen

Gericht kennengelernt. Der Prozeß dauerte nur zweieinhalb Tage. Anschließend hatte Martin mir bei einem Glas Mineralwasser von der Tyrannei der Waage erzählt. Was uns verband, obwohl ich mit Pferden ebensowenig zu tun hatte wie er mit der Hitze und Chemie, die meinen Alltag prägten, war vielleicht das Bewußtsein, daß wir körperlich fit sein mußten, um in unserem jeweiligen Metier zu bestehen.

Im Beratungsraum der Geschworenen hatte Martin mich nur mit höflichem Interesse gefragt:»Was machen Sie beruflich?«

«Ich bin Glasbläser.«

«Bitte?«

«Ich stelle Gegenstände aus Glas her. Vasen, Zierat, Trinkgefäße und dergleichen.«

«Du liebe Zeit.«

Ich mußte über seine Verwunderung lächeln.»Es gibt so Leute. Glaswaren werden seit vielen tausend Jahren hergestellt.«

«Ja, aber…«, er überlegte,»Sie sehen nicht aus wie jemand, der Zierat herstellt. Sie sehen ziemlich… robust aus.«

Ich war vier Jahre jünger als er, einen halben Kopf größer und ihm an Kraft wahrscheinlich ebenbürtig.

«Ich mache auch Pferde«, sagte ich freundlich.»Ganze Herden habe ich schon gemacht.«

«Der Crystal Stud Cup«, fragte er mit Bezug auf einen edel gestalteten Pokal im Flachrennsport,»ist der von Ihnen?«

«Der nicht.«

«Hm… Haben Sie denn einen Namen? Baccarat oder

so?«

Ich lächelte schief.»Schön wär’s. Ich heiße Logan. Gerard Logan.«

«Logan Glas. «Er nickte verstehend.»Sie haben einen Laden in der High Street in Broadway, wo die ganzen Antiquitätenhandlungen sind. Kenn ich vom Sehen.«

Ich nickte.»Geschäft und Werkstatt.«

Mehr schien er darüber nicht wissen zu wollen, aber eine Woche darauf war er in meine Galerie gekommen, hatte sich eine Stunde lang aufmerksam umgeschaut, mich gefragt, ob die ausgestellten Arbeiten alle von mir seien (die meisten waren es), und mir angeboten, mich zum Pferderennen mitzunehmen. Schon bald hatten wir uns an die Eigenheiten und Schwächen des anderen gewöhnt. BonBon benutzte mich als Schutzschild im täglichen Streit, und für die Kinder war ich ein Spielverderber, weil ich sie nicht an meinen Glasofen ließ.

In der ersten Hälfte dieses Renntags in Cheltenham lief alles normal. Martin gewann das Hürdenrennen über 3200 Meter mit sechs Längen, und Priam Jones maulte, sechs Längen seien zuviel. Für die Ausgleichsrennen sei das Pferd damit gestorben.

Martin zuckte die Achseln, zog belustigt die Brauen hoch und ging in die Jockeystube, um Lloyd Baxters Farben anzulegen, schwarzweiß gewinkelt quergestreift, mit rosa Ärmeln und rosa Kappe. Ich sah am Führring zu, wie die drei Männer — Trainer, Besitzer und Jockey — Tallahassee begutachteten, der zielbewußt an der Hand seines Pflegers im Kreis ging. Tallahassee stand bei den Buchmachern fünfundzwanzig zu zehn: klarer Favorit im Rennen um die Coffee Forever Gold Trophy.

Lloyd Baxter hatte ungeachtet der Bedenken seines Trainers auf ihn gesetzt und ich genauso.

Am allerletzten Hindernis blieb Tallahassee völlig überraschend mit den Hufen hängen. Locker mit sieben Längen führend, sprang er unkonzentriert, trat voll in das dichte Reisig, schlug einen Purzelbaum und landete mit zehn Zentner Lebendgewicht so auf seinem Reiter, daß sein Widerrist und der Sattelbaum ihm den Brustkorb eindrückten.