«Es war nicht seine Schuld, daß Tallahassee in Cheltenham gestürzt ist«, gab ich zu bedenken.
«Das war Martins Schuld«, kam die schneidende Antwort.»Er hat ihn beim Angehen des Sprungs aus der Balance gebracht. Er war sich zu sicher.«
Martin hatte mir gesagt, ganz gleich, was passierte, bei einem unzufriedenen Besitzer sei generell der Jockey schuld.
«Pilotenfehler. «Er hatte gleichmütig die Achseln gezuckt.
«Es gibt aber auch ganz andere Besitzer, eben die, für die zu reiten eine Freude ist, die wissen, daß Pferde nicht unfehlbar sind, die sagen: >So ist der Rennsportc, wenn ein Unglück passiert, und die den Jockey trösten, der sie gerade um den Sieg ihres Lebens gebracht hat. Und glaub mir«, hatte Martin gesagt,»Lloyd Baxter ist keiner von der Sorte. Wenn ich bei dem ein Rennen verliere, schiebt er es auf mich.«
«Aber«, sagte ich in Leicester ruhig zu Lloyd Baxter,»wenn ein Pferd stürzt, kann jedenfalls der Trainer nichts dafür. Priam Jones war nicht schuld daran, daß Tallahassee gestürzt ist und den Coffee Cup verloren hat.«
«Er hätte ihn besser einspringen sollen.«
«Hm«, wandte ich ein,»das Pferd hatte ja nun bewiesen, daß es springen kann. Es hatte schon mehrmals gesiegt.«
«Ich möchte einen anderen Trainer. «Lloyd Baxters Entschluß stand fest. Mit Argumenten, sah ich, war da nichts zu machen.
Zusätzlich zum Lunch hatte Tallahassees Besitzer noch eine Karte für die Gästeloge der Rennleitung bekommen. Er entschuldigte sich gerade dafür, daß er mich dorthin nicht mitnehmen könne, als jemand von der Rennleitung mich ansprach und dem Ganzen eine neue Richtung gab.
«Sind Sie nicht der Glasmacher?«brummte er freundlich.
«Meine Frau ist Ihr größter Fan. Wir haben massenhaft Sachen von Ihnen daheim. Sie waren doch selbst bei uns, um die Beleuchtung für das tolle Pferd auszuklügeln, das Sie ihr gemacht haben, nicht wahr?«
Da ich mich an das Pferd und das Haus noch hinreichend erinnerte, wurde ich — nicht unbedingt zur Freude Lloyd Baxters — eingeladen, mit zum Balkon der Rennleitung zu kommen.
«Dieser junge Mann ist ein Genie, wenn es stimmt, was meine Frau sagt«, meinte das Rennleitungsmitglied zu
Baxter und komplimentierte uns hinein. Das Genie wünschte sich bloß, es hätte nicht so weiche Knie.
Daß Lloyd Baxter an der Urteilskraft der Frau des Rennleitungsmitglieds zweifelte, stand ihm in das knochige Gesicht geschrieben, aber vielleicht beeinflußte ihn ihre Meinung schließlich doch, denn als der Beifall für den nächsten Sieger verebbt war, legte er mir zu meiner großen Überraschung leicht die Hand auf den Arm, um anzudeuten, daß ich bleiben und mir anhören solle, was er zu sagen hatte. Da er damit aber noch zögerte, gab ich ihm Hilfestellung.
«Ich habe mich oft gefragt«, sagte ich freundlich,»ob Sie nicht gesehen haben, wer an Silvester in meine Galerie gekommen ist. Ich meine, klar, Sie waren bewußtlos… aber davor… Als ich draußen auf der Straße war, ist da jemand gekommen?«
Nach einem längeren Schweigen nickte er schwach.»Es kam jemand in den großen Ausstellungsraum, den Sie da haben. Ich weiß noch, daß er nach Ihnen gefragt hat und ich gesagt habe, Sie seien auf der Straße. Aber ich konnte ihn nicht richtig sehen, weil meine Augen… manchmal fangen die an, hin und her zu zucken…«Er schwieg, aber ich sprach für ihn weiter.
«Sie haben doch sicher Tabletten.«
«Ja, natürlich!«Er war gereizt.»Aber in der Aufregung des Tages hatte ich vergessen, sie einzunehmen, und diese winzigen Airtaxis hasse ich sowieso, und den Trainer werde ich auf jeden Fall wechseln. «Mehr sagte er nicht, aber er hatte seine Nöte so klar dargestellt, daß auch ein Schimpanse sie verstanden hätte.
Ich fragte ihn, ob er trotz des Augenzuckens meinen unbekannten Besucher beschreiben könnte.
«Nein«, antwortete er.»Ich sagte ihm, Sie seien draußen, und als ich das nächste Mal richtig zu mir kam, war ich im
Krankenhaus. «Er schwieg, während ich mich über seinen Filmriß betrübte, und setzte dann zaghaft hinzu:»Ich weiß, daß ich Ihnen für Ihre Verschwiegenheit Dank schulde. Sie könnten mich immer noch arg in Verlegenheit bringen.«
«Davon hätte niemand was«, sagte ich.
Er musterte eine Weile mein Gesicht, so wie ich einmal das seine studiert hatte. Das Ergebnis überraschte mich.
«Sind Sie krank?«fragte er.
«Nein. Müde. Unausgeschlafen.«
«Der Mann, der da war«, sagte er unvermittelt, ohne auf meine Antwort einzugehen,»war dünn, mit einem weißen Bart, und über fünfzig.«
Als Beschreibung eines Diebes hörte sich das sehr unwahrscheinlich an, und offenbar hatte er mir meine Skepsis angesehen, denn um mich zu überzeugen, fuhr er fort:»Als ich ihn sah, fiel mir gleich Priam Jones ein, der seit Jahren davon redet, daß er sich einen Bart wachsen lassen will. Ich sagte ihm, dann würde er wie ein Waldschrat aussehen.«
Fast hätte ich gelacht — das Bild stimmte.
Baxter sagte, der Mann mit dem weißen Bart habe am ehesten wie ein Universitätsprofessor ausgesehen. Ein Dozent.
«Hat er etwas gesagt?«fragte ich.»War es ein normaler Kunde? Hat er von Glas gesprochen?«
Lloyd Baxter konnte sich nicht erinnern.»Wenn er überhaupt etwas gesagt hat, kam das bei mir nur als Wortsalat an. Meine Wahrnehmung verzerrt sich manchmal. Das ist dann so eine Art Warnung. Meistens bekomme ich das einigermaßen unter Kontrolle oder kann wenigstens Vorkehrungen treffen… aber an dem Abend ging alles zu schnell.«
Er war ungewöhnlich offen, fand ich. So viel Vertrauen hätte ich nicht erwartet.
«Der Mann mit dem Bart«, sagte ich,»muß doch zumindest etwas, ehm. von Ihrem Anfall mitbekommen haben. Wieso hat er Ihnen also nicht geholfen? Meinen Sie, er wußte einfach nicht, was tun, und ist bloß abgehauen, um keine Schwierigkeiten zu bekommen, wie man das kennt, oder hat er sich mit der Beute, ehm… mit der Segeltuchtasche voller Geld davongemacht?«
«Und mit der Videokassette«, sagte Baxter.
Totenstille trat ein. Dann sagte ich:»Was für eine Videokassette?«
Lloyd Baxter runzelte die Stirn.»Er hat danach gefragt.«
«Und Sie haben sie ihm gegeben?«
«Nein. Ja. Nein. Ich weiß es nicht.«
Offensichtlich war Lloyd Baxters Erinnerung an seinen Abend in Broadway ein gut verrührtes Gemisch aus Ordnung und Chaos. Ich wußte nicht, ob ein Hochschullehrer mit weißem Bart außerhalb seiner Phantasie existierte.
Wir saßen noch weitere zehn Minuten ungestört am idealsten Ort, den es dafür auf einer Rennbahn gibt — dem Balkon für die Gäste der Rennleitung —, und es gelang mir, Lloyd Baxter dazu zu bringen, daß er in Ruhe noch einmal über die ersten Minuten des Jahres 2000 nachdachte, aber es nützte wenig, er blieb bei dem dürren Mann mit dem weißen Bart, der, wenn es ihn denn überhaupt gab, wahrscheinlich — oder auch nur vielleicht — nach einer Videokassette gefragt hatte.
Er gab sich wirklich Mühe. Sein Verhalten mir gegenüber hatte sich merklich geändert, so daß er jetzt eher ein Verbündeter als ein Starrkopf war.
Auch über Martin und mich konnte er mir jetzt Dinge sagen, die früher nicht über seine Lippen gekommen wären.»Ich habe mich in Ihnen getäuscht«, gab er unter heftigem Stirnrunzeln zu.»Martin hat aus der Freundschaft mit Ihnen Kraft geschöpft, und ich dachte immer, es sei umgekehrt.«
«Wir haben einer vom anderen gelernt.«
Nach einem Augenblick sagte er:»Also der Kerl mit dem weißen Bart, der war wirklich da. Und er wollte die Videokassette. Wenn ich mehr wüßte, würde ich es Ihnen sagen.«
Zu guter Letzt glaubte ich ihm. Es war einfach Pech, daß Baxter ausgerechnet in dem Moment den Anfall bekommen hatte, und Pech für den Weißbart, daß Baxter dort gewesen war, aber wie es aussah, war tatsächlich in der Zeit, als ich im Freien die Ankunft des Jahres 2000 feierte, ein dünner, professorenhafter Mann mit weißem Bart in meine Galerie gekommen, hatte etwas von einer Videokassette gesagt und war mitsamt der Kassette und dem zufällig dabeiliegenden Geld wieder verschwunden, bevor ich zurückkam.