Ich hatte keine weißbärtige Gestalt auf der Straße gesehen. Für Knecht Ruprecht und seinen Chef war es ein paar Tage zu spät gewesen. Lloyd Baxter konnte mir nicht sagen, ob der Bart echt oder der Amtstracht des Weihnachtsmanns entlehnt war.
Als wir uns trennten, gaben wir uns zum allerersten Mal die Hand. Ich ließ ihn bei der Rennleitung zurück und ging hinaus zu Worthington, der zitternd und offensichtlich hungrig in der Kälte stand. Zum nächsten Imbiß war es nicht weit, und er langte mit enormem Appetit zu.
«Warum essen Sie nichts?«fragte er mit vollem Mund.
«Aus Gewohnheit«, sagte ich. Eine Gewohnheit, die auf das Exempel eines gewichtsbewußten Jockeys zurückging.
Martin hatte mein Leben offenbar stärker beeinflußt, als mir bewußt war.
Ich erklärte Worthington, während er zwei volle Portionen Fleischpastete mit Nieren vertilgte — nämlich meine und seine —, daß wir jetzt hinter einem dünnen Mann in den Fünfzigern mit weißem Bart her waren, der wie ein Hochschuldozent aussah.
Worthington schaute mich ernst an, während er Pastete auf seine Gabel lud.»Das«, meinte er,»klingt mir aber gar nicht nach jemand, der eine Tasche voll Geld stiehlt.«
«Sie überraschen mich, Worthington«, neckte ich ihn.
«Ich dachte, Sie müßten doch eigentlich wissen, daß ein Bart nicht unbedingt für Ehrlichkeit steht! Lassen Sie mich das mal ausspinnen. Sagen wir, Mr. Weißbart gibt Martin eine Kassette, der gibt sie an Eddie Payne weiter, und der gibt sie mir. Als Martin dann stirbt, hätte Mr. Weißbart seine Kassette gern zurück, und er forscht nach, wo sie geblieben ist… das heißt, er kommt nach Broadway. Er findet die Kassette und nimmt sie an sich, und weil die Gelegenheit günstig ist, läßt er noch die Geldtasche mitgehen, die ich dummerweise habe herumstehen lassen, und nun wird er sich hüten, irgend jemand zu erzählen, daß er seine Kassette wiederhat.«
«Weil er sonst den Gelddiebstahl zugibt?«
«Genau.«
Mein Leibwächter putzte seinen Teller leer.»Und dann?«fragte er.»Wie ging es dann weiter?«
«Da kann ich nur raten.«
«Bitte. Tun Sie das. Es war nämlich kein alter Knacker, der uns mit dem Gas betäubt hat. Daniel hat ja die Turnschuhe beschrieben, die der Gasmann anhatte, und wirklich, so was bindet sich nur Jungvolk an die Füße.«
Dieser Meinung war ich nicht. Exzentrische Weißbärte konnten alles mögliche anziehen. Sie konnten auch Sexvideos aufnehmen. Sie konnten auch jemandem erzählen, das Video sei ein Vermögen wert und in den Händen Gerard Logans. Warum nicht ein paar kleine Lügen? Ablenkungsmanöver. Greift euch Logan, schlagt ihn, bis er entweder das Video herausrückt oder wenigstens ausspuckt, was drauf war.
Was hatte Martin mir zur Aufbewahrung geben wollen?
Wollte ich das überhaupt noch wissen?
Was ich nicht wußte, konnte ich nicht ausplaudern. Wenn sie aber dachten, ich wüßte Bescheid und wollte nur nichts sagen… Verdammt, dachte ich, so weit waren wir doch fast schon mal, und du kannst nicht erwarten, daß Tom Pigeon und die Dobermänner jedesmal zur Stelle sind.
Das Geheimnis auf dem Video nicht zu kennen war vielleicht schlimmer, als es zu kennen. Kurz und gut, ich kam zu dem Schluß, daß ich nicht nur herausfinden mußte, wer es gestohlen hatte, sondern auch, was die Diebe sich davon versprochen hatten und was wirklich darauf zu sehen war.
Als Worthingtons Hunger vorerst gestillt war und wir unser Geld auf ein Pferd verwettet hatten, das Martin sonst geritten hätte, kehrten wir zu den dicht gestaffelten Ständen der Buchmacher zurück, die schon ihre Quoten für das letzte Rennen ausriefen.
Mit Worthingtons wohlbekannter Muskelkraft als Sicherheit und Garantie für freien Abzug näherten wir uns dem Herrschaftsbereich von Arthur Robins (seit 1894). Norman Ospreys Reibeisenstimme übertönte ungehemmt die seiner Nachbarn, bis er uns unter seinen Zuhörern bemerkte, und als er dann verstummte, bekam endlich auch die Konkurrenz eine Chance.
So nah, daß ich die einzelnen Härchen seiner Elviskoteletten sehen konnte, sagte ich:»Richten Sie Rose aus — «
«Sagen Sie’s ihr selbst«, unterbrach er mich laut.»Sie steht direkt hinter Ihnen.«
Ich drehte mich ohne Eile um, so daß ich Worthington im Rücken hatte. Rose starrte mich böse an, und aus ihrer steifen Körperhaltung sprach ein Haß, den ich zu diesem Zeitpunkt nicht verstand. Wieder sah ich in ihrer spröden Haut das Anzeichen eines berechnenden Charakters, doch heute hatte ich noch weitere gute Gründe für diese Annahme, da ich auf Baseballschläger, zerbrochene Uhren, fliegende Fäuste und eine ganze Latte anderer Tätlichkeiten, inszeniert und beklatscht als Sonntagabendunterhaltung für die Truppe, zurückblicken konnte.
Als sie jetzt gerade einmal zwei, drei Meter von mir entfernt stand, liefen mir Schauer über das gegerbte Fell, aber sie dachte anscheinend, mit schwarzer Maske und schwarzem Gymnastikanzug sei sie unmöglich zu erkennen gewesen.
Ich stellte ihr noch einmal die Frage, auf die sie mir die Antwort verweigert hatte.
«Wer hat Martin Stukely in Cheltenham ein Video gegeben?«
Diesmal antwortete sie, sie wisse es nicht.
«Heißt das«, sagte ich,»Sie haben nicht gesehen, wie jemand Martin ein Päckchen gegeben hat, oder Sie haben es gesehen, kennen aber den Überbringer nicht?«
«Ein ganz Schlauer, was?«meinte Rose sarkastisch.»Suchen Sie es sich aus.«
Mit Worten, dachte ich, ließ sich Rose nicht aufs Glatteis führen. Wahrscheinlich hatte sie die Übergabe gesehen und kannte auch den Überbringer, aber selbst ein Großinquisitor hätte Mühe gehabt, das aus ihr herauszuholen, und wir hatten bei Logan Glas keine Daumenschrauben.
Ohne groß zu hoffen, daß sie mir glaubte, sagte ich:»Ich weiß nicht, wo das Video geblieben ist, um das es Ihnen geht. Ich weiß nicht, wer es gestohlen hat, und ich weiß nicht, warum. Aber ich habe es nicht.«
Rose schürzte die Lippen.
Als wir davongingen, stieß Worthington einen frustrierten Seufzer aus.»Man sollte meinen, Norman Osprey sei der starke Mann in dem Verein. Er ist so gebaut, und er tönt auch so. Alle denken, er ist bei Arthur Robins am Drücker. Aber haben Sie gesehen, wie er Rose ansieht? Sie kann noch soviel Mist bauen, sie ist und bleibt der Kopf. Sie ist der Boss. Sie gibt den Ton an. Mein Privatdetektiv hat mich angerufen. Ich muß sagen, er ist sehr von ihr beeindruckt.«
Ich nickte.
Worthington, der Welterfahrene, fügte an:»Sie haßt Sie. Schon gemerkt?«
Ich antwortete ihm, das sei mir in der Tat aufgefallen.
«Aber ich weiß nicht, warum.«
«Genau erklären kann Ihnen das wohl nur ein Psychiater, aber was ich da gehört habe, kriegen Sie gratis. Sie sind ein Mann, Sie sind kräftig, sehen gut aus, Sie haben Erfolg im Beruf, und Sie haben keine Angst vor ihr. Ich wüßte noch mehr, aber das reicht erst mal. Dann läßt sie Sie vermöbeln, und schon stehen Sie wieder vor ihr wie neu, wenn Sie sich auch nicht so fühlen, und lachen ihr praktisch ins Gesicht, und glauben Sie mir, bei mir dürfte ein Widersacher noch nicht mal gähnen, da würde ich ihn schon über den nächsten Zaun befördern.«
Worthingtons Einschätzung war sicher klug, aber ich sagte:»Ich habe ihr nichts getan.«
«Sie fühlt sich durch Sie bedroht. Sie sind ihr überlegen. Sie würden das Match gewinnen. Da läßt sie Sie vielleicht lieber umbringen. Sie wird es nicht selbst tun. Und schieben Sie meine Warnung nicht einfach weg. Es gibt Menschen, die aus Haß töten, Menschen, die unbedingt gewinnen wollen.«