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Das Pferd stürzte mitten in der Beschleunigung zum Finish und schlug mit etwa fünfzig Stundenkilometern hin. Sekundenlang blieb es reglos auf dem Jockey liegen und wälzte sich dann heftig hin und her in dem Bemühen, wieder auf die Beine zu kommen.

Von meinem Platz auf der Tribüne war der Sturz und was danach kam wirklich furchtbar anzusehen. Der tosende Beifall für den Favoriten, der ein beliebtes Rennen nach Hause ritt, wich kollektivem Luftanhalten, einzelnen Schreien, einem besorgten Raunen. Der tatsächliche Sieger ging ohne den ihm gebührenden Applaus durchs Ziel, und einige tausend Ferngläser richteten sich auf die reglose Gestalt im schwarzweiß gemusterten Dress, die auf dem grünen Dezembergras lag.

Der Rennbahnarzt, der mit seinem Wagen sofort heranfuhr und sich um ihn kümmerte, konnte die rasch hinzukommende Schar von Sanitätern und Presseleuten nicht daran hindern, mit anzusehen, wie Martin Stukely starb. Sie sahen das Blut, das schaumig aus dem Mund des erstickenden Jockeys trat, während die scharfen Spitzen gebrochener Rippen ihm die Lunge zerrissen. Sie schilderten das Husten, das Röcheln in ihren Berichten.

Der Arzt und die Sanitäter luden Martin noch lebend in den bereitstehenden Krankenwagen und versorgten ihn auf dem Weg zur Klinik fieberhaft mit Sauerstoff und Blut, doch bevor sie dort ankamen, hatte der Jockey das Rennen verloren.

Priam, sonst nicht gerade ein Gefühlsmensch, weinte ungeniert, als er nachher Martins Habe, darunter auch die Wagenschlüssel, in der Jockeystube abholte. Begleitet von Lloyd Baxter, der eher verärgert als betrübt aussah, zog er die Nase hoch, schneuzte sich und bot mir an, mich nach Broadway mitzunehmen und mich dort an meinem Geschäft abzusetzen, wenn auch nicht an meinem Haus am Hang, da er in die entgegengesetzte Richtung weiterfahren wollte, nämlich zu Bon-Bon, um sie zu trösten.

Ich fragte Priam Jones, ob er mich mit zu Bon-Bon nehmen könne. Das lehnte er ab. Bon-Bon wolle ihn allein sehen. Das habe sie ihm in ihrem Kummer am Telefon gesagt.

Auch Lloyd Baxter werde er jetzt in Broadway absetzen, fügte Priam hinzu. Er habe ihm das letzte freie Zimmer im dortigen Hotel besorgt, dem Wychwood Dragon. Es sei alles geregelt.

Lloyd Baxter zeigte der Welt, seinem Trainer, mir und seinem Schicksal ein finsteres Gesicht. Er hätte gewinnen müssen, fand er. Ohne eigenes Verschulden war er um diese Ehre gebracht worden. Sein Pferd war unverletzt geblieben, aber dem toten Jockey schien er böse zu sein, statt um ihn zu trauern.

Als Priam mit hängenden Schultern und Baxter mit tiefen Stirnfalten in Richtung Parkplatz marschierten, kam Eddie, Martins Jockeydiener, hinter mir hergestürzt und rief meinen Namen. Ich blieb stehen, drehte mich um, und er drückte mir den Rennsattel in die Hand, der zwar superleicht war, aber, auf Tallahassees Rücken festgeschnallt, Verletzung und Tod gebracht hatte.

Die Steigbügel samt Riemen waren um das Sattelblatt gelegt und mehrfach mit dem langen Gurt umwickelt. Das professionelle Sattelzeug machte mir wie die Kamera meiner kürzlich verstorbenen Mutter mit der Gewalt eines Hammerschlags klar, daß der Mensch, der dazugehörte, niemals wiederkehren würde. Martins leerer Sattel ließ mich seinen Verlust auf das schmerzlichste empfinden.

Eddie der Jockeydiener war alt und kahl, aber nach Martins Einschätzung ein harter Arbeiter und über jeden Tadel erhaben. Er wandte sich wieder in Richtung Waage, blieb dann aber stehen, kramte ein in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen aus den tiefen Taschen seiner Schürze und rief mir nach, ich solle warten.

«Das ist bei Martin für Sie abgegeben worden«, sagte er und hielt mir das Päckchen hin.»Martin wollte es mitnehmen und es Ihnen nach dem Rennen aushändigen, aber…«, er schluckte, die Stimme versagte ihm,»… das kann er ja jetzt nicht mehr.«

«Wer hat es abgegeben?«

Der Jockeydiener wußte es nicht. Er wußte nur, daß Martin den Überbringer gekannt und im Scherz gesagt hatte, das Päckchen sei eine Million wert, und er war ganz sicher, daß es für Martins Freund Gerard Logan sein sollte.

Ich nahm das Päckchen dankend an, steckte es in meinen Regenmantel, und einen Moment lang fühlten wir den Verlust, der uns getroffen hatte, in seiner ganzen Bitterkeit. Als Eddie davoneilte, um wieder seiner Arbeit nachzugehen, und ich den Weg zum Parkplatz fortsetzte, dachte ich bei mir, daß dies mein letzter Besuch auf der Rennbahn gewesen sein könnte, denn ohne Martin machte es wohl keinen Spaß mehr.

Priam kamen beim Anblick des leeren Sattels wieder die Tränen, und Lloyd Baxter schüttelte mißbilligend den Kopf. Aber Priam faßte sich immerhin so weit, daß er Martins Wagen anlassen konnte und uns in düsterem

Schweigen nach Broadway fuhr, wo er Lloyd Baxter und mich wie geplant vor dem Wychwood Dragon absetzte, um allein zu Bon-Bon und ihren vaterlosen Kindern zu fahren.

Lloyd Baxter ließ mich einfach stehen und stapfte mißmutig in das Hotel. Auf der Fahrt hatte er sich beklagt, daß seine Reisetasche bei Priam zu Hause stehe. Er war von Staverton aus mit einem Leihwagen zu Priam gekommen, um den Abend auf dessen nun geplatzter Silvesterparty zu verbringen und den Sieg im Coffee Gold Cup zu feiern, bevor er am Neujahrsmorgen zurück zu seinem zweihundert Hektar großen Anwesen in Northumberland flog. Tallahassees Besitzer war auch dadurch nicht zu besänftigen, daß Priam versprach, ihm die Tasche nach seinem Besuch bei Bon-Bon persönlich vorbeizubringen. Der ganze Nachmittag sei schiefgelaufen, maulte er, und es hörte sich an, als spielte er mit dem Gedanken, sich einen neuen Trainer zu suchen.

Mein Glaswarengeschäft war nur einen Katzensprung vom Wychwood Dragon entfernt auf der anderen Straßenseite. Wenn man vom Platz vor dem Hotel herüberschaute, blitzten die Schaufenster in ultrahellem Licht, und sie waren tagaus, tagein von morgens bis Mitternacht beleuchtet.

Gern hätte ich, als ich über die Straße ging, die Zeit auf gestern zurückgedreht, damit Martin wieder zu mir kommen und eines seiner unmöglichen Glasbläserkunststücke vorschlagen könnte, die, wenn ich mich daran versuchte, jedesmal Bewunderer und Abnehmer fanden. Martin hatte sich besonders dafür interessiert, wie Glas überhaupt hergestellt wurde, und mir immer wieder zugesehen, wenn ich die Grundstoffe selbst zusammenmischte, statt das Material einfach im Handel zu kaufen.

Das vorgefertigte Rohglas wurde in 200-Kilo-Trommeln geliefert und sah wie undurchsichtige Murmeln oder dicke graue Erbsen aus, halb so groß wie das spiegelblanke Glasspielzeug, das daraus wurde. Ich griff regelmäßig darauf zurück, da es frei von Verunreinigungen war und einwandfrei schmolz.

Als Martin zum ersten Mal zusah, wie ich einen Wochenvorrat dieser grauen Murmeln in den Hafen meines Ofens lud, wiederholte er laut die Zusammensetzung:»Achtzig Prozent des Gemenges ist weißer Quarzsand vom Toten Meer. Zehn Prozent ist Soda. Pro fünfzig Pfund kommen etwas Antimon, Barium, Kalzium und Arsenik hinzu. Blaufärbung erzielt man durch Beimischen von Kobaltoxyd oder gemahlenem Lapislazuli. Gelb durch Kadmium, das beim Erhitzen orange und rot wird, na, wer hätte das gedacht?«

«Das ist Kristallglas«, bekräftigte ich lächelnd.»Völlig unbedenklich auch in der Küche zu verwenden, ich mache viel damit. Sogar Kleinkinder dürfen es ablecken.«

Er sah mich überrascht an.»Ist denn Glas nicht immer unbedenklich?«

«Na ja. nein. Wenn man mit Blei arbeitet, muß man überaus vorsichtig sein. Bleikristall. Wunderschöne Sache. Aber Blei ist extrem giftig. Bleioxyd vielmehr, das wird dem Glas zugesetzt. Ein rostrotes Pulver, das man im Rohzustand streng von allem anderen getrennt und unbedingt unter Verschluß halten muß.«

«Und was ist mit Weingläsern aus geschnittenem Bleikristall?«fragte er.»Ich meine, Bon-Bons Mutter hat uns ein paar geschenkt.«