Bon-Bon nahm die Nachricht von der Abreise ihrer Mutter mit wohlverhüllter Erleichterung auf und fragte mich hoffnungsvoll, ob» die leidige Videogeschichte «jetzt erledigt sei. Sie wollte, daß Ruhe in ihr Leben einkehrte, und ich hatte keine Ahnung, ob damit zu rechnen war. Ich erzählte ihr weder von Rose noch von der heftigen Unruhe, die Rose verbreitete.
Ich fragte Bon-Bon nach dem Weißbart. Sie sagte, sie habe ihn noch nie gesehen und nie von ihm gehört. Als ich erklärte, was mit ihm war, rief sie Priam Jones an, der, durch Lloyd Baxters Trainerwechsel stark in seiner Selbstachtung gekränkt, bedauerte, ihr nicht helfen zu können.
Bon-Bon wandte sich noch an mehrere andere Trainer, doch unter den Besitzern von Rennpferden gab es anscheinend keine dünnen, schon etwas älteren mit weißem Bart. Als sie es leid war, überredete sie ihre Mutter, Worthington erst noch einmal freizugeben, da ich sicher noch weiter wolle. Ich küßte sie dankbar und wollte nichts als heim zu meinem Haus am Hang und mich hinlegen.
Worthington sagte, als wir losfuhren, er freue sich aufs Skilaufen. Er möge Paris. Er möge Marigold. Er bewundere ihre Vorliebe für ausgefallene Mode. Mit der Löwin Rose müsse ich nun leider allein fertig werden. Viel Glück, meinte er fröhlich.
«Ich könnte Sie erwürgen«, sagte ich.
Während Worthington hinterm Steuer vergnügt in sich hineinlachte, schaltete ich mein Handy ein, um Irish daheim anzurufen und mich zu erkundigen, wie es im Laden gelaufen war, doch bevor ich die Nummer drücken konnte, meldete sich meine Mailbox, und die metallische Stimme des jungen Victor W. V. sagte mir knapp ins Ohr:»Schik-ken Sie mir Ihre E-Mail-Adresse an vicv@freenet.com.«
Verdammt noch mal, dachte ich, Victor hatte mir etwas mitzuteilen. Hinlegen konnte ich mich nachher noch. Nur mein Computer in Broadway war für E-Mail gerüstet. Resigniert änderte Worthington die Fahrtrichtung, hielt schließlich vor der großen Glastür und bestand darauf, mit mir in den Laden zu kommen und nachzusehen, ob sich dort keine maskierten oder anderen Finsterlinge versteckt hielten.
Der Laden war leer. Keine Rose im Hinterhalt. Wieder draußen am Rolls, gab mir Worthington die Hand, sagte mir, ich solle auf mich aufpassen, und nachdem er noch einmal prophezeit hatte, daß er in spätestens zwei Wochen zurück sei, fuhr er wohlgemut davon.
Fast sofort vermißte ich den Muskelmann, nicht nur als Schutzschirm, sondern auch als Vertreter einer realistischen Lebensanschauung. Paris und Skilaufen waren eine Reise wert. Ich seufzte über meine unentrinnbaren Blessu-ren, startete meinen schlummernden Computer, ging ins Internet und schickte Victor eine E-Mail mit meiner Adresse.
Ich nahm an, es würde eine ganze Weile dauern, bis ich von Victor hörte, aber fast augenblicklich — das hieß, er hatte am Computer gesessen und gewartet — erschien auf dem Bildschirm meines Laptops die Frage:»Wer sind Sie?«
Ich mailte:»Martin Stukelys Freund.«
Er fragte:»Name?«, und ich gab an:»Gerard Logan.«
Seine Antwort lautete:»Was wünschen Sie?«
«Woher kanntest du Martin Stukely?«
«Ich kannte ihn von früher, habe ihn mit meinem Großvater oft beim Pferderennen gesehen.«
Ich schrieb:»Warum hast du Martin diesen Brief geschickt? Woher wußtest du von einem Video? Bitte sag mir die Wahrheit.«
«Ich habe gehört, wie meine Tante meiner Mutter davon erzählt hat.«
«Woher wußte deine Tante davon?«
«Meine Tante weiß alles.«
Ich begann an seinem Wirklichkeitssinn zu zweifeln, und mir fiel ein, daß er gesagt hatte, er spiele ein Spiel.
«Wie heißt deine Tante?«Ich erwartete nichts Bestimmtes, ganz sicher aber keine Antwort, bei der mir die Spuk-ke wegblieb.
«Meine Tante heißt Rose. Ihren Nachnamen ändert sie dauernd. Sie ist die Schwester meiner Mutter. «Kaum hatte ich das gelesen, hängte er an:»Ich mach jetzt besser Schluß. Sie ist gerade gekommen!«
«Warte. «Gebannt von seiner Enthüllung, gab ich rasch ein:»Kennst du einen dünnen alten Mann mit weißem Bart?«
Als ich mich längst damit abgefunden hatte, keine Antwort zu bekommen, erschienen drei Wörter.
«Dr. Force. Wiedersehen.«
Kapitel 5
Zu meiner großen Freude parkte Catherine Dodd ihr Motorrad wieder am Straßenrand und nahm ihren Helm ab, bevor sie über den Gehsteig zu meinem Laden kam, wo ich ihr schon die Tür aufhielt. Es schien ganz selbstverständlich, daß wir uns zur Begrüßung küßten, und schließlich blieb sie vor den Schwingen stehen, die ich gerade erst richtig ausgeleuchtet hatte.
«Das ist fabelhaft«, sagte sie beeindruckt.»Viel zu schade für Broadway.«
«Schmeicheleien finden immer ein offenes Ohr«, versicherte ich ihr und nahm sie mit in die Werkstatt, wo es am wärmsten war.
Meine E-Mail-Unterhaltung mit Victor lag ausgedruckt auf dem Stahltisch, und ich gab sie ihr zu lesen.»Was denkst du?«fragte ich.
«Ich denke, du brauchst stärkere Schmerztabletten.«
«Nein. Von Victor.«
Diesmal setzte sie sich in den Sessel, nachdem ich ihr versprochen hatte, mich in dem Secondhand- und Antiquitätenladen am Ort nach einem zweiten umzusehen.
«Vorausgesetzt«, korrigierte ich das Versprechen,»du kommst wieder und setzt dich rein.«
Darauf nickte sie, als verstünde sich das von selbst, und las Victors E-Mail. Als sie damit fertig war, legte sie das
Blatt Papier auf ihre schwarzledernen Knie und hatte selbst ein paar Fragen.
«Okay«, sagte sie.»Als erstes, wer ist Victor noch mal?«
«Der fünfzehnjährige Enkel von Ed Payne, dem Jockeydiener, der Martin Stukely auf der Rennbahn betreut hat. Ed gab mir die Videokassette, die dann hier gestohlen wurde und die dich zu mir geführt hat. Victor hat Martin diesen Brief hier geschrieben. «Ich zeigte ihr den Brief, und sie zog skeptisch die Brauen hoch, als sie ihn las.
«Victor sagt, das sei alles nur ein Spiel«, sagte ich.
«Dem kann man doch kein Wort glauben«, meinte sie.
«Doch, kann man schon. Er spielt mit wahren Versatzstücken. Oder, wenn du so willst, er hat, wie das jedem schon mal passiert ist, etwas gehört und gedacht, es bedeute etwas anderes.«
«Ein Mißverständnis?«fragte Catherine.»Und die Fakten?«
«Tja… die Fakten, wie ich sie sehe. «Ich unterbrach mich kurz, um Kaffee zu kochen, da sie Wein nicht wollte, obwohl ihr Dienst zu Ende war. Sie trank den Kaffee schwarz, lieber warm als heiß.
«Ich kann nur mutmaßen«, sagte ich.
«Tu das.«
«Beginnen wir mit einem weißbärtigen Mann, der nach Hochschullehrer aussieht und möglicherweise Dr. Force heißt. Nehmen wir an, dieser Dr. Force hat irgendwelche Informationen, die er sicher aufbewahrt wissen will, und so nimmt er sie mit nach Cheltenham zum Pferderennen und gibt sie Martin.«
«Verrückt«, seufzte Catherine.»Warum hat er sie nicht auf die Bank gebracht?«
«Das müssen wir ihn fragen.«»Und du bist auch verrückt. Wie sollen wir ihn denn finden?«
«Du bist die Polizistin«, meinte ich lächelnd.
«Nun, ich werde es versuchen. «Sie lächelte zurück.»Und dann?«
«Dann ging Dr. Force wie geplant zum Pferderennen. Er gab Martin das Video. Nach Martins Unfall war unser Dr. Force bestimmt sehr unglücklich und besorgt, und ich könnte mir denken, daß er da in der Nähe der Jockeystube herumgestanden und überlegt hat, was er tun soll. Dann sah er, wie Ed Payne das in braunem Papier verpackte Video mir gab, und er wußte, daß es seines war, weil er es selbst darin eingepackt hatte.«
«Du solltest Polizist werden«, neckte mich Catherine.
«Also gut, Dr. Force findet heraus, wer du bist, und kommt hierher nach Broadway, und als du einen Moment deine Tür aufläßt, um draußen die Millenniumsluft zu schnuppern, läuft er schnell rein und nimmt sein Video wieder an sich.«
«Genau.«