Er werde auf uns warten, sagte er, und wir könnten uns Zeit lassen. Wie vereinbart habe er ein Picknickpaket für uns alle mitgebracht.
Tom Pigeons Hunde, endlich frei, sprangen begeistert umher und schnüffelten mit unvorstellbarem Genuß an Heidekraut und fetter dunkelroter Erde. Tom selbst stieg aus, streckte die Arme, dehnte die Brust und atmete in tiefen Zügen die reine Luft.
Victor, wie verwandelt durch den Wechsel vom Reihen-haus-Taunton zum weiten, offenen Land, sah beinah unbeschwert, beinah glücklich aus.
Tom und seine schwarzen Gefährten liefen zügig den Weg entlang und wurden bald von der hügeligen Landschaft verschluckt. Victor und ich blieben hinter ihnen, gingen aber bald langsamer, während Victor sein Herz ausschüttete und von seinem verheerenden Elternhaus, seinen Schwierigkeiten redete wie vermutlich noch nie in seinem Leben.
«Mum ist in Ordnung«, sagte er.»Und Dad eigentlich auch, außer wenn er in der Kneipe war. Wenn Mum oder ich ihm dann zu nahe kommen, scheuert er uns ein paar.«
Er schluckte.»Nein, das wollte ich jetzt nicht sagen. Aber letztes Mal hat er ihr die Rippen und das Nasenbein gebrochen, und ihr Gesicht war auf der einen Seite ganz blau, und als Tante Rose das sah, ist sie zu Polizei, was irgendwie seltsam ist, denn ich habe auch schon gesehen, wie sie meinen Vater geschlagen hat. Sie hat Fäuste wie ein Boxer, wenn’s drauf ankommt. Sie kann austeilen, bis die armen Kerle um Gnade flehen, und dann lacht sie sie aus, und wenn sie ihnen dann noch eine oder zwei gelangt hat, tritt sie einen Schritt zurück und lächelt… und manchmal gibt sie dem Verprügelten dann einen Kuß. «Gespannt warf er mir einen Blick zu, um zu sehen, was ich vom Verhalten seiner Tante Rose hielt.
Ich dachte bei mir, daß ich in der Nacht der Schwarzmasken vielleicht noch glimpflich davongekommen war, weil Rose jemand gefunden hatte, der ihr an Rabiatheit nicht nachstand — meinen Freund mit den Hunden, der jetzt vor uns übers Moor ging.
«Hat Rose dich auch schon mal geschlagen?«fragte ich Victor.
Er war verblüfft.»Natürlich nicht. Sie ist doch meine Tante.«
In ein, zwei Jahren würde seine Tante ihn als erwachsenen Mann betrachten und nicht mehr als Kind.
Wir gingen ein Stück weiter, während ich überlegte, wie wenig ich von der Psychologie einer Frau wie Rose verstand. Männer, die sich gern von einer Frau schlagen ließen, waren nicht ihr Fall. Es ging ihr darum, den Willen der Männer zu brechen.
Der Weg war schmaler geworden, so daß ich, zum Reden eher ungünstig, vor Victor hergehen mußte, aber dann kamen wir plötzlich auf einen breit angelegten Platz, der eine gute Aussicht nach allen Seiten bot. Tom Pigeon stand weiter unten vor uns, und die Dobermänner tollten ausgelassen um ihn herum.
Nachdem ich ein Weilchen zugesehen hatte, stieß ich einen scharfen Pfiff aus — mein Vater und mein Bruder hat-ten so das schier unmögliche Kunststück zustande gebracht, im dicksten Londoner Regen Taxis anzuhalten.
Tom Pigeon blieb stehen, drehte sich in dem hügeligen Gelände um, winkte als Antwort und kam uns entgegen. Die Hunde hielten schnurgerade auf mich zu.
«Mensch«, sagte Victor beeindruckt.»Wie machen Sie das?«
«Leg die Zunge an den Gaumen. «Ich zeigte es ihm, und ich bat ihn noch einmal, mir von Dr. Force zu erzählen. Den müsse ich sprechen, sagte ich.
«Wen?«
«Du weißt doch ganz genau, wen. Dr. Adam Force. Der Schreiber des Briefs, den du kopiert und an Martin geschickt hast.«
Solcherart zurechtgewiesen, brauchte Victor einen Augenblick, bis er wieder in Gang kam.
«Martin wußte, daß es ein Spiel war«, sagte er schließlich.
«Das glaube ich schon«, pflichtete ich ihm bei.»Er hat dich gekannt, er kannte Adam Force, und Adam Force kennt dich. «Ich beobachtete, wie Tom Pigeon zu uns heraufstapfte.»Vielleicht kennst du auch ihr Geheimnis, das Geheimnis auf dem Video, von dem alle reden.«
«Nein«, sagte Victor,»keine Ahnung.«
«Lüg nicht«, ermahnte ich ihn.»Du hältst doch nichts von Lügnern.«
«Ich lüge nicht«, sagte er empört.»Martin wußte, was auf dem Band war, und Dr. Force natürlich auch. Als ich Martin den Brief schickte, hab ich einfach nur Dr. Force gespielt. Ich spiele oft andere Leute, auch Tiere manchmal. Manchmal rede ich mit Leuten, die es gar nicht gibt.«
Harvey das Kaninchen, dachte ich — und ich selbst war früher Lokführer und Rennreiter gewesen. Victor würde das bald hinter sich lassen, aber jetzt im Januar 2000 noch nicht.
Ich fragte ihn, wie er an den Brief von Dr. Force gekommen sei, den er dann unter seinem eigenen Namen an Martin geschickt hatte.
Als Antwort zuckte er nur mit den Schultern.
Ich fragte ihn einmal mehr, wo dieser Dr. Force zu finden sei, aber er druckste herum und meinte, Martin habe das bestimmt irgendwo notiert.
Anzunehmen. Victor wußte, wo, aber er wollte es mir nicht sagen. Irgendwie mußte ich ihn überreden — ihn dahin bringen, daß er es mir sagen wollte.
Tom Pigeon und seine drei lebhaften Gefährten kamen zu uns auf die Aussichtsplattform, und alle waren sichtlich guter Laune.
«Das nenne ich einen Pfiff«, meinte Tom Pigeon bewundernd, worauf ich ihn in voller Lautstärke wiederholte, so daß die Hunde mit wachen Blicken, zuckenden Nüstern mir verblüfft die Schnauzen zukehrten. Tom tätschelte sie, und sie wedelten wie wild mit den Stummelschwänzen.
Auf dem Rückweg zum Wagen mühte sich Victor redlich, die Hunde mit einem ähnlich starken Pfiff zu beeindrucken, doch seine hauchigen Versuche zeigten keine Wirkung. Den Tieren stand der Sinn jetzt mehr nach Wasser und reichlich Hundekuchen, die ihr Halter mitgebracht hatte, und danach war es Zeit für ihre Siesta.
Tom selbst, der Fahrer, Victor und ich verzehrten Sandwiches im Wagen, vor dem Wind geschützt; dann hielten auch sie ein Schläfchen. Ich stieg aus, ging gemütlich noch einmal den Fußweg entlang, versuchte Victors Verwirrspiel zu verstehen, es mir möglichst einfach zu erklären und die Möglichkeiten im Verity-Payne-Videokasset-tenkarussell auf die wahrscheinlichsten einzugrenzen. Es blieb dabei, daß ich zunächst einmal unbedingt Adam Force finden mußte, und der Weg zu ihm führte immer noch über Victor.
Ich mußte Victor dahin bringen, mir intuitiv so zu vertrauen, daß er mir, ohne zu überlegen, seine geheimsten Gedanken mitteilte. Außerdem mußte ich ihn schnell dahin bringen, und ich wußte nicht, ob solch eine totale Gehirnwäsche machbar, geschweige denn ethisch vertretbar war.
Als sich am Wagen etwas regte, kehrte ich um und sagte den gähnenden Ausflüglern, nach meiner billigen neuen Uhr sei es Zeit aufzubrechen, wenn wir wieder in Lorna Terrace sein wollten, bevor Victor seine Mum zurückerwartete.
Tom ging in die Büsche, um sich zu erleichtern, und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, ich solle mitkommen.
Krisenplanung stand an. Der Tag war ihm zu glatt gelaufen. Hatte ich auch gewisse Eventualitäten bedacht?
Wir bedachten sie gemeinsam und kehrten zum Wagen zurück, wo der schweigsame Fahrer einen Draht zu Victor entdeckt hatte und mit ihm über Computer fachsimpelte.
Die Zufriedenheit über den Tag draußen auf dem Moor schwand nach und nach und verflüchtigte sich, als der Kombi unausweichlich auf Lorna Terrace zusteuerte. Victors Nervenzittern machte sich wieder bemerkbar, und er versuchte mir vom Gesicht abzulesen, ob ich vorhatte, ihn wieder in sein unbefriedigendes Leben zurückzustoßen. Er wußte genau, daß er in seinem Alter auf Gedeih und Verderb der Justiz ausgeliefert wäre und daß ihn die Justiz mit Sicherheit der Obhut seiner Mutter unterstellen würde. Selbst die kettenrauchende Gina mit den großen Lockenwicklern würde dann sehr wahrscheinlich als von einem undankbaren Kind im Stich gelassene Mama betrachtet werden. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die immer und überall etwas bedrohlich wirkte, würde sie vor Gericht so dastehen, wie ich sie zuerst erlebt hatte, als eine ausgeglichene, tolerante und liebevolle Mutter, die unter schwierigen Bedingungen ihr Bestes gab.