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Der Fahrer hielt auf Tom Pigeons Geheiß an einer Straßenecke, damit der Wagen von Nr. 19 aus nicht gesehen werden konnte. Victor und ich stiegen an der Ecke aus, und ich konnte ihm die Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit, die sich in den jetzt wieder gekrümmten Schultern zeigten, sehr gut nachfühlen. Ich ging mit ihm zur Haustür von Nummer 19, die man wie bei vielen derartigen Reihenhäusern über einen betonierten Fußweg erreichte, der durch ein kleines Gartenviereck mit staubigem Gras führte. Victor zog einen Schlüssel aus der Tasche, schloß auf und führte mich wie schon einmal durch den Flur in die helle, wohnliche kleine Küche, da ich ihm versprochen hatte, mit ihm dort zu warten, bis seine Mutter nach Hause kam, auch wenn ihr das vielleicht nicht gefiel.

Beim Anblick der Küchentür blieb Victor verwirrt und unbehaglich stehen.»Ich bin sicher, ich hab die Tür verriegelt, bevor ich weg bin. «Er zuckte die Achseln.»Na ja, die Tür vom Hinterhof hab ich auf jeden Fall verriegelt. Wenn ich das vergesse, wird Mum böse.«

Er öffnete die Küchentür und trat hinaus in den Hinterhof mit seinem Unkraut und welken Gras. Die hohe Ziegelmauer hatte ein großes braunes Tor auf der anderen Seite, aber die beiden Riegel oben und unten waren auch dort nicht vorgeschoben, was Victor erst recht beunruhigte.

«Mach sie zu«, drängte ich, aber Victor blieb betreten und verwirrt vor mir stehen, und obwohl mir schlagartig klar wurde, was los war, kam ich nicht schnell genug an ihm vorbei. In dem Moment, als ich von der Küche über den Rasen darauf zulief, wurde das Tor geöffnet.

Rose kam von der Straße herein. Gina und der Gorilla Norman Osprey kamen triumphierend hinter uns aus dem Haus marschiert. Rose und Osprey waren mit abgeschnittenen Gartenschlauchstücken bewaffnet. Das von Rose war mit einem Hahn versehen.

Victor stand wie erstarrt neben mir und wollte nicht glauben, was er sah. Die Worte, die er dann an seine Mutter richtete, waren ein kaum verständliches» Du bist schon wieder da?«

Rose pirschte sich wie eine Löwin auf der Jagd an mich heran, schwang den grünen Schlauch mit dem schweren Messinghahn und leckte sich förmlich die Lippen.

Gina, ausnahmsweise ohne Lockenwickler und entsprechend hübsch, versuchte das Bevorstehende damit zu rechtfertigen, daß sie Victor wehleidig erklärte, sein eingesperrter Vater habe ihr gesagt, sie solle sich verziehen, er sei nicht in der Stimmung, sich ihr dämliches Gewäsch anzuhören. In ihrer Wut sagte sie Victor zum ersten Mal, daß sein Vater >im Bau< sei und daß er es verdiene.

«Er kann ein fieses Schwein sein, dein Vater«, sagte Gina.

«Und dafür fahren wir die ganze Strecke! Also hat Rose mich wieder hergebracht, und die Hexe nebenan meinte, du hättest dich heimlich zum Bahnhof geschlichen. Sie ist dir nämlich nachgegangen, weil sie sowieso da lang mußte, und du hast dich mit dem Kerl da getroffen, dem Kerl, der uns, wie Rose sagt, eine Million stehlen will. Wie kannst du nur, Vic? Rose meint, daß sie ihn diesmal schon dazu bringen wird, uns zu sagen, was wir wissen wollen, aber bei dir brauchten wir uns dafür nicht zu bedanken.«

Ich hörte nur ein Teil davon. Ich beobachtete Victors Gesicht und sah mit Erleichterung, wie Ginas selbstgerechter Tonfall ihn zunehmend befremdete. Je mehr sie sagte, desto weniger gefiel es ihm. Man sah dem Jungen an, wie sein Widerstand wuchs.

Die augenblickliche und sich anbahnende Situation hier hatte zwar nicht zu den Eventualitäten gehört, die Tom und ich im Gebüsch durchgespielt hatten, aber eventuell — wenn ich mir schnell etwas einfallen ließ, wenn ich mir Victors Entsetzen über den Sermon seiner Mutter zunutze machen konnte, wenn ich Roses Überredungskünsten ein wenig standhielt — bekam Victor nach dem unbeschwerten Tag im Moor doch noch Lust, mir zu erzählen, was er mit Sicherheit wußte. Vielleicht würde ihn der Anblick seiner brutal auf mich losgehenden Tante Rose dazu treiben, mir als Wiedergutmachung ein Geschenk anzubieten… mir das anzubieten, von dem er wußte, daß ich es haben wollte. Dafür ließ sich ein wenig Unbehagen vielleicht aushalten. Also los, sagte ich mir. Wenn’s sein muß, dann bring es hinter dich.

Vorigen Sonntag, dachte ich, hatten die Schwarzmasken mich überrumpelt. Diesen Sonntag war es anders. Ich konnte den Angriff selbst herausfordern, und das tat ich, indem ich Richtung Tor lief, direkt auf Rose und ihren schwingenden Wasserschlauch zu.

Sie war schnell und hemmungslos und konnte zwei Treffer anbringen, ehe ich ihren rechten Arm zu fassen bekam und ihn ihr auf den Rücken drehte, ihr Gesicht mit den Sommersprossen und dem trockenen Teint nah an meinem, die Zähne vor Haß und jähem Schmerz gebleckt. Gina fluchte gotteslästerlich und schrie mir ins Ohr, ich solle ihre Schwester loslassen.

Ganz kurz sah ich Victors entsetztes Gesicht, bevor Norman Osprey mich von hinten mit seinem Schlauchstück erwischte. Rose wand sich aus meinem Griff, stieß Gina aus dem Weg und holte schon wieder mit dem

Schlauch aus. Ich brachte aus der Drehung einen Kickboxschlag an, der Norman den Gorilla erst einmal mit dem Gesicht aufs Gras warf, und kassierte dafür einen fürchterlichen Kinntreffer von Rose, der mir die Haut aufriß.

Genug, dachte ich. Nein, mehr als reichlich. Überall floß Blut. Ich griff zu meiner einzigen echten Waffe, dem gellenden SOS-Pfiff, der nach Absprache mit Tom >Sofort kommen< bedeutete.

Aber was, wenn ich pfiff und er kam nicht…?

Ich pfiff noch einmal, lauter und länger, nicht, um im Londoner Regen ein Taxi zu ergattern, sondern um unentstellt und mit intakter Selbstachtung davonzukommen. Ich hätte Rose zwar nicht direkt sagen können, wo sich die begehrte Videokassette befand, aber wenn ich zu arg in Bedrängnis geraten wäre, hätte ich mir wohl etwas aus den Fingern gesogen. Ob sie mir dann geglaubt hätte oder nicht, stand auf einem anderen Blatt, und ich brauchte es hoffentlich nicht herauszufinden.

Glücklicherweise brauchte ich auch nicht herauszufinden, wie sich Rose den Abschluß ihrer sportlichen Sonntagnachmittagsbetätigung gedacht hatte. Ein lautes Krachen und Klirren ertönte, dann die Stimme von Tom, der seinen Hunden ein Kommando zurief, und drei knurrende Dobermänner schossen sturmwindartig durch die weit offene Küchentür auf den engen kleinen Hinterhof.

Tom hatte eine Eisenstange dabei, die von einem Stadteigenen Geländer stammte. Norman Osprey wich vor ihm zurück, denn dagegen war sein Gummischlauch nun schlapp und nutzlos, und vorbei war das fröhliche Sonntagsvergnügen.

Rose, das Zielobjekt der Hunde, gab Fersengeld und verließ recht überstürzt den Schauplatz durch das Tor, indem sie sich durch einen Spalt zwängte und es hinter sich zuzog.

Ich verließ mich darauf, daß die Hunde mich gut genug kannten, um ihre Fänge bei sich zu behalten, ging zwischen ihnen durch und legte die beiden Riegel am Tor vor, damit Rose auch ja draußen blieb.

Gina schrie Tom lediglich einmal und ohne allzu großen Einsatz an, als sei es sinnlos, sich gegen einen solchen Fels zu stemmen. Sie war sogar still, als sie feststellte, daß Tom die Haustür eingetreten hatte, um hereinzukommen. Sie versuchte nicht, ihren Sohn zurückzuhalten, als der an ihr vorbei durchs Haus rannte und im Flur hinter mir her rief.

Tom und die Dobermänner waren bereits draußen auf dem Gehsteig und unterwegs zum Wagen.

Ich blieb sofort stehen, als Victor rief, und wartete, bis er bei mir war. Entweder sagte er es mir jetzt oder nicht. Entweder der Schlauch und der Wasserhahn hatten sich ausgezahlt oder nicht. Es würde sich zeigen.

«Gerard…«Er war außer Atem, nicht vom Laufen, sondern von dem, was er auf dem Hof gesehen hatte.»Das halte ich alles nicht aus. Wenn Sie’s wissen wollen… Dr. Force wohnt in Lynton«, sagte er.»Valley of the Rocks Road.«

«Danke«, sagte ich.