Alle nickten.
Ich drückte George Lawson-Young die Hand. Er gab mir einen Schwung Telefonnummern und meinte breit lächelnd, die Nummer des Labors hätte ich ja schon. Das gestohlene Videoband würde ich sicherlich finden. Kombinationsgabe und Intuition würden mir helfen.
«Erhoffen Sie sich nicht zuviel«, sagte ich.
«Sie sind unsere einzige Hoffnung!«erwiderte er nüchtern.
Meine Fluchthelferin und ein paar ihrer Kollegen begleiteten mich gutgelaunt in den sechsten Stock und riegelten die Tür zum Dach auf.
Vergnügt, aber doch still wegen des Mannes tief drunten in der Gasse beobachteten sie, wie ich die sanft abfallende Schräge hinunterrutschte bis zu der Brüstung am Dach-rand. Als sie mich dort knien sahen, winkten sie noch einmal zum Abschied und sperrten die Dachluke hinter mir zu.
Ich hätte zwar auf allen vieren weiterrobben können, aber dann hätte mich Norman Osprey wahrscheinlich gesehen. Meine zierliche Retterin hatte nicht bedacht, daß ich fast doppelt so groß war wie sie. Um mich unsichtbar zu machen, mußte ich schon auf dem Bauch kriechen, denn die Brüstung war gerade einmal so hoch, wie mein Unterarm lang war.
Zitternd und schwitzend arbeitete ich mich bäuchlings hinter der kargen Deckung voran, und ich mußte meine Nerven und meine Phantasie komplett abschalten, um auch an den Stellen, wo der Putz bröckelte, weiterzukriechen. Es war ein langer Weg nach unten.
Die tiefstehende Sonne warf lange Schatten und machte alles noch schlimmer.
Die sieben Häuser kamen mir wie fünfzig vor.
Ich war überzeugt, ein Sturz über die Brüstung wäre leichter zu ertragen als diese waghalsige Robberei, als ich endlich die Feuerleiter erreichte.
Sieh es positiv, dachte ich grimmig, denn wenn Adam Force jemals auf dem Dach des Laborgebäudes gewesen war, würde er bestimmt nicht annehmen, daß ich da oben herumturnte.
Meine entzückende Retterin bemerkte, als sie mich unten auflas, kritisch, ich hätte mir ganz schön Zeit gelassen. Ich war viel zu geschlaucht und mein Mund viel zu trok-ken, um ihr zu antworten. Es tat ihr leid, daß das Dach vom Regen naß gewesen war und ich mir die Kleider versaut hatte. Das macht nichts, krächzte ich. Sie schaltete die Scheinwerfer und die Heizung an. Nach und nach hörte ich auf, vor Kälte — und vor Angst — zu zittern.
Wir fanden Jim gewohnt hektisch am vereinbarten Treffpunkt vor. Meine Retterin übergab mich ihm mit den Worten, die Fluchtaktion habe uns großen Spaß gemacht. Fürs Benzin wollte sie nichts haben. Aber ich drückte sie aus tief empfundener Dankbarkeit und gab ihr einen dik-ken Kuß.
Kapitel 9
Auf der Heimfahrt schaute ich bei Bon-Bon vorbei, um mit ihr zu reden, und stellte fest, daß sie nicht mehr soviel weinte und ihr Erinnerungsvermögen sich gebessert hatte. Gern beantwortete sie meine Fragen, und als ich ihr sagte, welche Schritte wir unternehmen könnten, stimmte sie bereitwillig zu.
Bis Jim mich vor meinem Haus am Hang absetzte und ich gähnend ausstieg, waren wir beide müde. Er war mit Abstand der bürgerlichste meiner drei selbsternannten Aufpasser und wohnte ziemlich in der Nähe. Seine Frau hatte ihn auf die Idee gebracht, mich zu fragen, ob ich ihn nicht ganz als Fahrer haben wollte, bis ich meinen Führerschein zurückbekam. Ich überlegte mir das noch wegen der Kosten, und er überlegte es sich noch wegen des Radio- und Musikverbots. Wir wollten uns Bescheid geben.
An diesem Mittwochabend stand Catherines Motorrad aufgebockt vor dem Kücheneingang. Jim fuhr ab, und der Duft nach warmem Essen, der mich in der Küche empfing, erschien mir so natürlich, wie er mir bei anderen Frauen manchmal künstlich vorgekommen war.
«Tut mir leid. «Sie zeigte mit dem Ellbogen auf einen Rest Rührei.»Ich wußte nicht, wann du zurückkommst, und ich hatte Hunger.«
Ich fragte mich, ob sie bewußt darauf geachtet hatte,»zurück «statt» heim «zu sagen.
Sie schaute mich aufmerksam an und zog die Brauen hoch.
«Ich bin ein bißchen naß geworden«, sagte ich.
«Erzähl’s mir nachher. «Sie machte neues Rührei, während ich mich umzog, und wir aßen gemütlich zusammen.
Ich kochte uns Kaffee, und als wir ihn tranken, betrachtete ich ihr hübsches Gesicht mit dem feinen Teint und den welligen blonden Haaren und fragte mich, was diese Frau an mir fand.
«Ich habe heute Dr. Force wiedergesehen«, sagte ich.
Catherine lächelte.»Und war er immer noch so reizend und einnehmend und gut, daß er jedermann den Glauben an die Menschheit wiedergeben könnte?«
«Nicht ganz«, sagte ich.»Er hätte mich wahrscheinlich um die Ecke gebracht, wenn er gekonnt hätte. «Ich gähnte und erzählte ihr der Reihe nach, ohne Übertreibung, was ich erlebt hatte.
Sie hörte aufmerksam und mit Entsetzen zu.
Ich nahm ihr die Kaffeetasse ab und stellte sie in den Spülstein. Wir waren noch in der Küche, die dank meiner Mutter mit zwei großen, bequemen Sesseln und einer guten Heizung ausgestattet war.
Wir setzten uns zusammen in einen der Sessel und genossen die Nähe ebensosehr als wohltuende Entspannung wie als sinnliches Vergnügen.
Ich erzählte ihr von dem Professor und seiner Gleichung mit der Unbekannten.»Nach dieser Methode«, schloß ich,»gehe ich jetzt alles durch, was gesagt und getan worden ist, füge eine Unbekannte hinzu und schaue mir an, wohin das führt.«
«Hört sich schwierig an.«
«Es verändert das Bild.«
«Und wenn du ihn findest? Den Maskierten Nummer vier?«
«Er bereitet mir Alpträume«, sagte ich.
Ich strich ihr über das Haar. Es war schön, sie in den Armen zu halten, und sie kuschelte sich behaglich an mich.
Wollte ich den Maskierten Nummer vier in das Bild einfügen, so wie ich zuerst mit ihm konfrontiert worden war, mußte ich mir jeden einzelnen Schlag ins Gedächtnis rufen, den ich damals auf dem Gehsteig in Broadway abbekommen hatte, und, als wäre das noch nicht genug, unangenehmerweise auch noch jedes Wort von Rose.
«Brecht ihm die Handgelenke!«hatte sie geschrien.
Catherine bewegte sich in meinen Armen und schmiegte sich enger an mich, und statt an Rose dachte ich dann doch lieber ans Bett.
Catherine stand zeitig auf und fuhr vor Tagesanbruch zu ihrer Frühschicht, und ich ging im Dunkeln zum Geschäft hinunter, dachte über die beiden Tage in Lynton und Bristol nach und fragte mich genau wie Professor Lawson-Young, ob Dr. Force noch im Besitz der unersetzlichen Daten war, die er gestohlen hatte, und sie zum Verkauf anbieten konnte.
Strenggenommen ging einen hergelaufenen Glasmacher aus der Provinz die ganze Geschichte nichts an, aber meine gut heilenden Schrammen riefen mir in Erinnerung, daß nicht jeder diese Meinung teilte.
Strenggenommen war die ganze Sache auch einen toten Hindernisjockey nichts angegangen, und doch hatte man seine Frau und seine Kinder mit Gas betäubt und ihnen sämtliche Videorecorder entwendet.
Der für seine Forschung lebende Professor verließ sich, wie er gesagt hatte, ganz auf meine Kombinationsgabe, aber für mein Gefühl setzte er da, um mit Martin zu sprechen, alles auf einen Nichtstarter.
Ich erkannte, daß ich bei der Jagd nach der Videokassette bisher stets ins Leere gelaufen war: von einer Sackgasse in die andere. Der Professor war überzeugt, daß einer der Wege über kurz oder lang zu seinem Schatz führen müßte, und ich dachte mir Lloyd Baxter, Ed Payne, Victor, Rose, Norman Osprey, Bon-Bon und Adam Force als diese Wege, diese Sackgassen. Ich dachte an alles, was sie gesagt und getan hatten, denn der Professor hatte recht: Wenn es mir gelang, die Lügen auszusondern, würde ich die Wahrheit finden. Viel mehr Zeit und Energie und Kopfzerbrechen kostete mich seine Behauptung, wenn ich in meine Berechnungen die Unbekannte x (Schwarzmaske vier) miteinbeziehe, würden sie allesamt aufgehen.