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Ohne Eile räumte ich die Werkstatt auf, rechnete zweimal die Tageseinnahmen zusammen und packte sie in die Segeltuchtasche, in der ich sie immer zum Nachttresor der Bank brachte. Dann zog ich Hemd und Schlips wieder an, und endlich hatte ich Zeit, mir das vernachlässigte Päckchen einmal näher anzuschauen. Es enthielt genau das, wonach es aussah, eine gewöhnliche Videokassette, etwas enttäuschend. Das Band war bis zum Anfang zurückgespult und die Kassette schwarz, ohne jedes Etikett. Sie hatte keine Hülle. Ich legte sie erst einmal neben das Geld, und da fiel mir ein, daß mein Videogerät zu Hause stand, daß ich meinen Wagen verkauft hatte und daß kurz vor Mitternacht zur Jahrtausendwende nicht die günstigste Zeit war, um ein Taxi zu rufen.

Mein Programm für Silvester, ein Tanzabend in der Nähe meiner Wohnung, hatte sich auf der Rennbahn von Cheltenham erledigt. Geh halt ins Wychwood Dragon, dachte ich ohne sonderliche Begeisterung; vielleicht war da noch ein Zimmerchen frei. Ich würde mir auf der anderen Straßenseite ein Sandwich und eine Wolldecke neh-men und ins neue Jahr hineinschlafen, und morgen früh würde ich eine Huldigung an einen Jockey entwerfen.

Als ich gerade zum Wychwood Dragon aufbrechen wollte, klopfte jemand fest an die Facettenglastür, und ich ging nur an die Tür, um dem Anklopfer zu sagen, daß es viel zu spät sei, daß in einer Viertelstunde auch in Broadway das Jahr zweitausend beginne, das in Australien bereits seit Stunden eingeläutet war. Ich sperrte auf, und vor mir stand ebenso unverhofft wie unerwünscht Lloyd Baxter, dem ich mit einem unterdrückten Gähnen in aller gebotenen Höflichkeit erklärte, ich sei einfach zu müde, um mich über das Unglück von Cheltenham oder sonst etwas zum Thema Pferde zu unterhalten.

Er trat ins Licht des Eingangs, und ich sah, daß er eine Flasche Dom Perignon und zwei der besten Sektgläser des Wychwood Dragon in den Händen hielt. Sein Gesichtsausdruck war ungeachtet dieser Friedenspfeifen immer noch sehr ungnädig.

«Mr. Logan«, sagte er steif,»ich kenne hier niemand außer Ihnen, und daß zur Freude kein Anlaß besteht, dürfte uns beiden wohl klar sein… nicht nur, weil Martin Stukely tot ist, sondern weil das nächste Jahrtausend noch blutiger zu werden verspricht als dieses, und was es an einer neuen Jahreszahl zu feiern gibt, sehe ich nun wirklich nicht ein, zumal das Datum sicher ohnehin nicht stimmt. «Er schöpfte Atem.»Daher wollte ich den Abend auf meinem Zimmer verbringen — «Er brach plötzlich ab, und ich hätte den Satz für ihn zu Ende sprechen können, bedeutete ihm aber nur, einzutreten, und schloß die schwere Tür hinter ihm.

«Trinken wir auf Martin«, sagte ich.

Er schien über mein Entgegenkommen erleichtert, obwohl er wenig von mir hielt und alt genug war, um mein

Vater zu sein. Aber die Einsamkeit hatte ihn zu mir geführt, und so stellte er die Gläser auf den Ladentisch, ließ feierlich den Korken knallen und schenkte das teure Gesöff ein.

«Trinken Sie, auf was Sie wollen«, sagte er bedrückt.

«Vielleicht war es keine so gute Idee, herzukommen.«

«Doch«, sagte ich.

«Ich konnte die Musik hören, verstehen Sie?«

Die ferne Musik draußen hatte ihn aus seinem Zimmer getrieben. Musik übt auf das Gesellschaftstier Mensch eine starke Anziehung aus. Niemand wollte still ins Jahr 2000 gehen.

Ich sah auf meine Armbanduhr. Nur neun Minuten noch bis Mitternacht.

Man mußte den organisierten Rummel nicht unbedingt mitmachen, schon gar nicht, wenn man unter dem Eindruck heftiger, frischer Trauer stand, und doch fand ich den Gedanken an eine neue Chance, einen möglichen Neuanfang, unwillkürlich aufregend.

Neue Jahreszahlen sind voller Verheißung.

Fünf Minuten bis Mitternacht. und bis zum Feuerwerk. Ich trank Lloyd Baxters Champagner und konnte ihn immer noch nicht leiden.

Tallahassees Besitzer hatte seine Reisetasche gebracht bekommen und Gesellschaftskleidung angezogen, inklusive schwarzer Krawatte. Die beinah edwardianische Gepflegtheit schien das Erdrückende seiner Persönlichkeit eher zu verstärken als zu mindern.

Ich kannte ihn zwar schon seit mindestens zwei Jahren und hatte schon bei erfreulicheren Anlässen seinen Schampus getrunken, mir bisher aber noch nicht die Mühe gemacht, seine Gesichtszüge eingehend zu studieren. Als ich das jetzt nachholte, entsann ich mich, daß sein dichtes, kräftiges Haar früher braun gewesen war, aber seit er die Fünfzig überschritten hatte, waren graue Strähnen hineingekommen, erst nur einzelne, die sich meinem Eindruck nach aber rasch vermehrt hatten. Sein Schädel war kräftig und fast urzeitlich, mit wulstigen Brauen und einem ausgeprägten Kinn.

Früher mochte er einmal schlank und hungrig gewesen sein, aber mit dem ausgehenden Jahrhundert hatte er an Hals und Bauch zugelegt und die achtunggebietende Statur eines Vorstandsvorsitzenden angenommen. Wenn er mehr nach einem Industriellen als nach einem Gutsherrn aussah, so lag das vielleicht daran, daß er, um Rennpferde und Grund zu erwerben, die Aktienmehrheit an einer Schifffahrtslinie verkauft hatte.

Grimmig hatte er mir mitgeteilt, daß er von jungen Männern wie mir, die nach Belieben tagelang blaumachen konnten, nichts hielt. Ich wußte, daß er mich als einen Schmarotzer ansah, der von Martin zehrte, auch wenn Martin oft genug betont hatte, es sei eher umgekehrt. Offenbar tat sich Lloyd Baxter schwer damit, eine einmal gefaßte Meinung zu ändern.

Draußen in der kalten Nacht läuteten Englands Glocken fern und nah zum alles entscheidenden Augenblick, zur Feier des offiziellen Jahreswechsels, und stellten wieder einmal klar, daß die Menschheit es geschafft hatte, einem gleichgültigen Planeten ihre Rechenweise aufzuzwingen. Lloyd Baxter hob sein Glas, um auf einen guten Vorsatz zu trinken, und ich schloß mich seiner Geste an, wünschte mir aber lediglich, gesund durchs Jahr 2000 zu kommen. Höflichkeitshalber fügte ich an, wenn er mich entschuldige, würde ich draußen auf sein Wohl trinken.

«Bitte«, sagte er leise.

Ich öffnete die Galerietür, ging mit meinem golden sprudelnden Getränk hinaus auf die Straße und sah, daß es noch viele andere Leute ins Freie gezogen hatte. Eine ganze Heerschar genoß, wie von einem übernatürlichen Instinkt getrieben, die frische Luft unter den Sternen.

Der Mann, der im Laden nebenan antiquarische Bücher verkaufte, schüttelte mir kräftig die Hand und wünschte mir gutmütig ein frohes neues Jahr. Ich lächelte und dankte ihm. Lächeln war leicht. An diesem rundum friedlichen Ort begrüßte man das neue Jahr und die Nachbarn in aller Herzlichkeit. Fehden konnten warten.

Ganz in der Nähe hatten Leute einen großen Reigen gebildet, schunkelten mit verschränkten Armen über die Straße und sangen» Auld Lang Syne «mit ziemlich bruch-stückhaftem Text, und ein paar Autos voller ausgelassen johlender Jugendlicher krochen mit Fernlicht und wildem Gehupe vorbei. Alle in der High Street feierten auf ihre Weise, doch die Stimmung war durchweg gut.

Vielleicht blieb ich deshalb länger als beabsichtigt draußen, ehe ich mich widerwillig entschloß, in den Laden zu meinen tresorfertigen Tageseinnahmen und meinem ungebetenen Gast zurückzukehren, dessen Laune sich durch meine Abwesenheit sicher nicht gebessert hatte.

Bedauernd lehnte ich einen Malt Whisky ab, den mir der Buchhändler anbot, und empfand, als ich zu Logan Glas hinüberging, einen ersten Anflug von Resignation darüber, daß Martin nicht mehr da war. Ihm war immer bewußt gewesen, daß der Beruf sein Tod sein könnte, aber er hatte nicht damit gerechnet. Stürze waren zwar unvermeidlich, aber sie passierten» ein andermal«. Verletzungen wurden schlicht als lästig angesehen, weil sie das Siegen erschwerten. Gutgelaunt hatte er mir einmal erklärt, er werde seine Stiefel» an den Nagel hängen«, sobald er Angst habe, sie anzuziehen.

Nicht Angst, sondern die Angst vor der Angst plage ihn, hatte er gesagt.