»Sei vernünftig!« protestierte Stan. Er nahm eine der fetten braunen Hände zwischen die seinen. »Natürlich gehe ich mit.«
»Sacre tonnerre!« schrie die alte Frau. »Seid ihr beide verrückt?«
»Nun, nun, beruhige dich doch«, bat Stan. »Wie ist es mit dem Festmahl, das du uns versprochen hast?«
Madame Sonntag ließ sich bereitwilligst ablenken. »Ja. Bleibt hier. Gebt mir drei, vier Stunden, und die Festmahl ist bereit.«
Ted lächelte. »Dann wird es gerade fertig sein, wenn wir zurück sind.«
»Möge der gute Gott uns helfen!« Madame Sonntag rollte die Augen, ließ sich dann wieder in den Sessel fallen, während auf ihren hohen Backenknochen die ersten Tränen rollten. Sprachlos vor Entsetzen schlug sie die Hände vors Gesicht. Und so blieb sie sitzen, als die beiden jungen Leute sich verabschiedet hatten und ihren Weg antraten.
Die Nachmittagssonne fiel schräg durch die Bäume und Büsche der Plantage, als sich Ted und Stan zu dem marae tief im Urwald auf der anderen Seite der Insel aufmachten. Sie gingen einen Karrenweg entlang, der durch einen riesigen Wald von Kokospalmen führte. An einem Punkt, wo die Lagune landeinwärts schwenkte, erreichten sie ein kleines Dorf mit palmblattgedeckten Hütten und machten eine Pause. Stan unterhielt sich mit aufgeregter Stimme mit einer Gruppe tahitischer Arbeiter, die nur rotweiße pareus um die Lenden trugen. Rund um die Hütten waren niedrige Plattformen errichtet, auf denen Kokosfleisch und ölige Vanillebohnen trockneten. Der süße, eklige Geruch, der davon ausging, war für Ted beinahe zuviel. Er war froh, als sie endlich weitergingen, obwohl der durchdringende Gestank ihnen noch lange folgte.
Schließlich hatten sie die Plantage hinter sich gebracht und stießen auf einen Pfad längs des Ufers. Stan erklärte seinem Freund, daß es zeitsparender sei, die Insel zu umgehen, als die zwar kür-
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zere, aber viel schwierigere Route durchs Landesinnere zu nehmen. Taiarea, so erzählte er weiter, war eine der kleineren Inseln, auf der sich nur eine einzige Pflanzung befand — die seines Vaters.
Außer dem Dorf, das sie eben durchschritten hatten, gab es kein weiteres mehr. Die undurchdringliche Wildnis im Innern hatte den Priestern des alten heidnischen Glaubens gehört; und seitdem die alten Götter nichts mehr galten, mieden die Tahitier die Insel tunlichst und bauten innerhalb eines meilenweiten Umkreises um die Opferstätte, die früher einmal den Ruhm der Insel ausgemacht hatte, keine Wohnungen. Dem allgemeinen Aberglauben nach hatten die alten Götter Tahitis sich nun zornig auf das heilige Taiarea zurückgezogen und grollten rachelüstern, weil lange schon der neue Gott der weißen Männer sie ersetzt hatte.
»Hast du gesagt, es befänden sich überhaupt keine Statuen mehr dort?« erkundigte sich Ted, während sie nebeneinander über den Pfad liefen.
»Jetzt nicht mehr, mon ami. Vor langer Zeit ist einmal ein Missionar hierhergekommen und hat die Steine des großen Altares mit Genehmigung der französischen Verwaltung dazu benutzt, einen Anlegeplatz für seine Pflanzung zu bauen. Doch ein Hurrikan zerstörte den kleinen Hafen, der Missionar starb bald darauf, und nun ist von der gewaltigen Anlage nichts mehr übriggeblieben als eine einzige Plattform eines kleinen marae.«
»Und die Götterbilder? Was ist aus denen geworden?« fragte Ted weiter.
»Ach, das ist der traurigste Teil der Geschichte. Was würden wir heute nicht darum geben, die alten Statuen und Idole zu studieren, die von den Ureinwohnern Tahitis verehrt wurden! Viele der Steinfiguren sind von jenem Missionar vernichtet worden — aber nicht alle. Die Legende erzählt, daß in einer dunklen Nacht die nichtbekehrten Eingeborenen die verbliebenen Statuen in ihre großen Kriegskanus geladen und sie an einer Stelle weit jenseits des Riffs eine nach der anderen ins Meer versenkt haben.«
Ted seufzte. In Gedanken erwog er die Rücksichtslosigkeit der weißen Rasse gegenüber Zivilisationen, die von der eigenen verschieden sind. Schweigend gingen sie weiter. Ungefähr sechs Meilen von der Pflanzung entfernt kamen sie an eine kleine Bucht. Stan teilte seinem Freunde mit, daß ihr Marsch nun gleich
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zu Ende sei. In alten Zeiten war diese Bucht der Hafen für die großen Kriegskanus von den benachbarten Inseln gewesen, denn die Gläubigen unternahmen lange Fahrten, um an den Festen teilzunehmen, die hier zu Ehren der Götter stattfanden. Reste des alten Kriegskanals führten immer noch tief in den Urwald hinein, in Richtung auf den größten Altar, an dem sich die wichtigsten Zeremonien abgespielt hatten.
Tatsächlich erreichten die beiden Amerikaner bald die Ufer eines Wasserlaufes, der fast wie ein Bach aussah.
»Das ist der ehemalige Kriegskanal«, verkündete Stan.
Ted, der sich alles gründlich anschaute, sah, daß der alte Wasserweg immer noch tief und breit genug war, um eine Schaluppe von beträchtlichen Ausmaßen bis weit in den Dschungel hineinfahren zu lassen. Am diesseitigen Rande lief ein kaum sichtbarer Pfad entlang, den die Jungen nun einschlugen. Obwohl man erkennen konnte, daß ihn kürzlich eine Menge von Menschenfüßen benutzt hatte, brütete über ihm eine absolute und bedrückende Stille. Winzige Landkrebse — tutulus nannte Stan sie — glitten seitwärts in ihre Löcher hinein. Zu beiden Seiten wucherten riesige Farne. Über ihren Köpfen schwankten die Kronen himmelhoher Palmen.
Bald war das Dröhnen der fernen Brandung nicht mehr zu hören, und schließlich erreichten sie auch das Ende des alten Kanals. Im zwielichtigen Dämmer des tropischen Dschungels war eine hölzerne Schiffslände errichtet worden. Vom Berg herab sprang ein winziges Bächlein.
Stan blieb stehen und wandte seinem Freund ein verblüfftes Gesicht zu. »Die Lände ist neu«, sagte er langsam.
»Aber danach sieht sie doch nicht aus«, protestierte Ted.
»Das liegt nur daran, mon ami, daß du nicht weißt, wie eine einzige Regenperiode alles auf diesen Inseln alt macht. Doch dieser Anlegeplatz war vor zwei Jahren ganz bestimmt noch nicht hier. Und der Kanal kommt mir tiefer vor.« Stan blickte sich um.
»Das marae liegt dort hinten. Gehen wir.«
Schweigend schritten sie weiter. Beiden war nicht zum Reden zumute. Im düsteren Unterholz umsummten große Insekten sie; hin und wieder ließ der schrille Schrei eines Mynah-Vogels sie zusammenzucken. In Teds Hirn bohrte eine einzige Frage: Wes-
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halb besuchte Corkery diesen verlassenen, von den Eingeborenen um jeden Preis gemiedenen Ort?
Plötzlich hob Stan warnend die Hand. Ted trat leise neben ihn.
»Was ist?« flüsterte er.
»Schau nur! Auf dem marae hat jemand eine Hütte errichtet.«
Ted prüfte die Szene vor seinen Augen gründlich. Im Dämmerlicht schien das Grün und Braun des Dschungels zu einem undurchdringlichen Gestrüpp aus Gewächsen zusammenzuschließen.
Farnbäume, wilde Orangen und bananenartige feis wucherten rundum. Bald jedoch konnte er Einzelheiten besser unterscheiden.
Auf einer kleinen Bodenerhöhung erkannte er den Umriß einer langen, etwa sechzig Zentimeter hohen steinernen Plattform.
Darauf befand sich ein Bauwerk mit dichtem Blätterdach und Wänden aus geflochtenem Ried.
»Wie — hier scheint ja jemand zu wohnen!« rief Ted mit unterdrückter Stimme.
Stans vor Verblüffung weit aufgerissene Augen ließen die lange, niedrige Hütte nicht los. »Auch die ist neu gebaut worden. Als ich fortging, war sie noch nicht da. Ich begreife überhaupt nichts mehr. Die Steine des marae waren von Farnen und anderen Grünzeug überwuchert.«
»Am besten sehen wir uns mal an, was drin ist«, flüsterte Ted.
»Hast du eine Gänsehaut?«