»Nein — nein!« Ted schritt zum Tisch und schaute, sich mit beiden Händen auf die Platte stützend, seinen Kapitän über das grüne Tuch weg an. »Nach Ihnen werden keine Buchstaben mehr gebraucht werden, Kapitän Tom. Sie werden es herausfinden!«
»Ich hoffe es allen Ernstes.« Ein gewinnendes Lächeln glitt über die rauhen Züge des Mannes. »Wir sind schon vorher miteinander durch schweres Wetter gesegelt, Joe Macaroni. Erinnern Sie sich an den Trip flußaufwärts nach Schanghai? Das war ja auch alles andere als eine Vergnügungsfahrt! Wir werden die Geschichte auch diesmal schon zusammen fingern. Wenn wir nur halbwegs Glück haben, werden wir die Reederei nicht enttäuschen.«
Teds Augen strahlten begeistert auf. »Aber dieser Agent, dieser Stanhope Ridley, wer ist das?«
»Ein amerikanischer Pflanzer und Perlenhändler — reich, mächtig.
Die Gesellschaft möchte ihm die Agentur nicht entziehen, ehe sie ihn nicht sozusagen auf frischer Tat ertappt hat. Schließlich gibt es ja noch keinerlei Gewißheit. Was wir haben, sind Vermutungen. Diese tropischen Inseln der Südsee können einen weißen Mann manchmal vom Kern seines Wesens her ändern, so daß er auf seine früheren Erfahrungen pfeift, ja sogar jedes Gefühl für Anstand und Ehre fahren läßt. Vielleicht ist das Ridley geschehen ! Und nun ist auch er verschwunden ... «
»Sie meinen: verschwunden wie X, Y und Z?«
Kapitän Jarvis sah auf. »Wenn ich an den Burschen im Logis vorn denke, dann möchte ich fast hoffen daß es so ist — aber ich bezweifle es. Mir scheint es eher ein Fall absichtlichen Verschwindens zu sein. Ridley ist vielleicht ausgerissen. Tahiti gehört zu Frankreich; einmal im Monat läuft ein Dampfer aus Bordeaux Papeete an. In Paris könnte ein solcher Mann von seinem Reichtum bequem leben.«
»Stan Ridleys Vater!« Ted sagte es impulsiv. »Das kann ich einfach nicht glauben.« Plötzlich hielt er inne. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Nach oben schauend, zum Bullauge hin, sah er verblüfft, wie das Glas Zentimeter um Zentimeter zur Seite verschoben wurde. Hinter dem Glas aber war als undeutlicher Flecken das Gesicht eines Mannes zu sehen.
Eine Sekunde lang war der neue Dritte Offizier zu erregt zum
- 26 -
Handeln. Dann aber sprang er zu Jarvis hinüber und sprach leise und schnell auf ihn ein. »Es hat uns jemand belauscht! Vom Hüttendeck aus — durchs Oberlicht!«
Der Herr der Araby erhob sich mit verblüffender Geschwindigkeit. »Raus!« befahl er schnell. »Sehen Sie zu, wer es ist.«
Ted wandte sich zur Tür und stieß sie auf. Er rannte in die Dunkelheit hinaus, erklomm die Steuerbordleiter, blieb dann stehen. Schwacher Lichtschimmer vom Oberlicht der Messe fiel auf die gespenstischen Umrisse der beiden Rettungsboote, die hintereinander in ihren Gestellen auf dem kleinen Deck hingen.
Geräuschlos schlich er sich achtern zur Heckreling hin. Dort drehte er sich um und wartete horchend. Das rhythmische Klikken des Patentlogs, das regelmäßige Schlagen der Schrauben, das Gurgeln des Kielwassers füllten ihm augenblicklich die Ohren.
Sonst war nichts zu hören. Seine Augen aber, die mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt waren, erkannten die Umrisse eines gebückt übers Deck schleichenden Mannes. Während Ted noch hinsah, verschwand die Gestalt die Backbordleiter hinunter.
Unverzüglich machte sich Ted an die Verfolgung. Er rannte am Oberlicht vorüber und schwang sich, eine Hand am Handlauf, mit der Behendigkeit des Seemannes, der seit langem schon gepackt und gegen einen großen Körper gepreßt, der vom Anprall leise schwankte.
Ein Fluch scholl über das düstere Deck. Eine Stimme brüllte:
»Da hab ich dich erwischt!« Und Kapitän Jarvis' Arme hielten Ted in eisernem Griff.
»Ich bin's doch nur, Käpt'n Tom. Eben ist einer diese Leiter runtergesaust und nach vorn gelaufen. Haben Sie ihn gesehen?«
»Himmelkreuzdonnerwetter — Sie sind's, Joe Macaroni?« Mit einem enttäuschten Knurren lockerte der Kapitän seinen Griff.
»Dabei hatte ich von vornherein angenommen, daß Sie Gespenster gesehen hätten, mein Junge. Haben Sie sich bestimmt nicht geirrt?«
»Todsicher nicht«, erklärte Ted ein wenig hitzig.
»Na, jedenfalls sind wir großartige Detektive!« Der schwere Mann lachte in sich hinein. »Wer immer es auch gewesen sein mag — jetzt ist er weg.«
Beider Augen versuchten die Dunkelheit zu durchdringen, jedoch
- 27 -
erblickten sie auch nicht die Spur einer sich bewegenden Gestalt.
Über das windige Deck fiel aus den Seitenfenstern der achtern liegenden Offizierskabinen Licht, und oben auf dem Bootsdeck schimmerten die beiden Bullaugen des Funkraums wie runde Augen in der schwarzen Nacht. Die Back- und Steuerbordgänge lagen im Düstern und gaben niemanden preis, der sich vielleicht in ihnen verbarg.
»Vorwärts«, flüsterte der Kapitän, »gehen wir mal auf die Suche.
Ich nehme backbord, gehen Sie rüber nach steuerbord.«
Die beiden trennten sich. Ted eilte über das Achterdeck, an den zugedeckten Lukenschächten vorüber, betrat den lichtlosen Gang und kam auf dem Backdeck wieder raus. Dort stand ein Matrose an der Reling. »Haben Sie grad jemanden nach vorn kommen sehen?« fragte Ted.
»Nein, Sir«, antwortete der Mann mit offenkundigem Erstaunen.
»Hier ist alles ruhig.«
Ted erkannte, als er auf den Mann zuging, in ihm den kleinen, untersetzten Matrosen, der ihn vorhin zum Kapitän gerufen hatte. »Wie heißen Sie?« fragte er.
»Smith, Sir.«
»Ist dies Ihre erste Fahrt auf der Araby?«.
»Ja, Sir.«
Ted wandte sich leicht beunruhigt ab. Obwohl die Worte des Mannes höflich genug gewesen waren, schwang doch im Ton etwas mit, das Ted nicht gefiel. Augenscheinlich fiel es dem Burschen schwer, dem jungen Offizier, der sich auf so vertrautem Fuß mit dem feinen Pinkel, der Zielscheibe aller Backwitze, befand, den nötigen Respekt zu erweisen.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Decks stieß Ted auf seinen Skipper.
»Nichts zu machen«, flüsterte Kapitän Jarvis. »Diesmal ist er uns entwischt. Aber machen wir uns vorläufig keine Sorge — wahrscheinlich irgendein neugieriger Bursche, der von unserer Affäre sonst nichts weiß. Sie haben sich das Gesicht am Oberlicht ganz bestimmt nicht nur eingebildet?«
Ted schüttelte den Kopf. Ein Verdacht stieg ihm aus dem Unterbewußtsein hoch, ein Verdacht, der ihm tiefe Röte vom Hals übers Gesicht bis an den Ansatz des sandfarbenen Haares steigen ließ.
- 28 -
Tief drunten im Maschinenraum schlug eine Schiffsglocke an.
»Zeit für mich, auf Wache zu gehen«, verkündete Ted, sich zusammenreißend.
»Ich gehe gleich auf die Brücke, um den Kurs zu prüfen«, nickte sein Chef. »Ihre erste Wache als Dritter Offizier, Joe Macaroni.
Viel Glück!«
Doch Teds Gedanken weilten nicht bei der bevorstehenden Wache.
Nachdenklich schritt er zur Treppe zum Kabinendeck hin. Als er die Tür seiner eigenen Kabine öffnete, sah er Stan Ridley mit fj einem Buch über Navigationskunde auf der Bettkante sitzen.
»Tut mir leid, daß ich so lange weggeblieben bin«, murmelte er.
»Und jetzt muß ich gleich nach oben gehen.«
Stan Ridley erhob sich. »Gibt's was Neues?« fragte er in beiläufigem Ton.
Ted schaute den Jungen prüfend an. Bildete er sich nur ein, daß ihm der Atem schneller ging, so, als habe er sich eben noch angestrengt — als sei er vielleicht gerannt? Teds Blick verhärtete sich. »Nichts«, erwiderte er. »Gute Nacht.«
Während er unter halbgeschlossenen Lidern her den Jüngeren betrachtete, trat Ridley über die messingbeschlagene Sturmschwelle auf das schmale Deck. Dort blieb er, scharf umrissen vor der Schwärze der Nacht, stehen, öffnete die Lippen, als wolle er etwas sagen, zögerte dann. Ted sah deutlich, wie sich die Muskeln im Jungengesicht schmerzlich verzogen. Aus den dunklen Augen warf er ihm einen hilflosen Blick zu: flehend, gequält. Bei diesem Anblick regte sich in Ted etwas. Mit großer Anstrengung jedoch unterdrückte er den Impuls, auf die schweigende Bitte zu reagieren. Ein jäher Regenschauer unterbrach die Stille.