Der Penner sah ihn überrascht und argwöhnisch blinzelnd an. »Nun… ja. So was in der Art.« Er suchte nach der Geschichte -die er wahrscheinlich inzwischen selbst mehr glaubte als alle, denen er sie erzählt hatte - und fand ihren zerschlissenen Faden wieder. »Iss’n guter Job, wissense? Und ich könnt ihn wiederha’m. Um zwei fährt’n Bus von Bangor nach Aroostook, kost aber fünffuffzich, uns bis jetzt hab ich nur’n Vierteldollar -«
»Sechsundsiebzig Cent haben Sie«, sagte Lois. »Zwei Vierteldollarmünzen, zwei Dimes, einen Nickel und einen Penny. Aber wenn man bedenkt, wieviel Sie trinken, sieht Ihre Aura überraschend gesund aus, das kann ich Ihnen sagen. Sie müssen die Konstitution eines Ochsen haben.«
Der Penner warf ihr einen verwirrten Blick zu, dann wich er einen Schritt zurück und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab.
»Keine Bange«, beruhigte Ralph ihn, »meine Frau sieht überall Auren. Sie ist eine ausgesprochen spirituelle Person.«
»Tatsache?«
»Hm-hmm. Außerdem ziemlich großzügig, und ich glaube, sie hat was Besseres als nur ein bißchen Kleingeld für Sie. Richtig, Alice?«
»Er wird es nur versaufen«, sagte sie. »Es gibt keinen Job in Dexter.«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Ralph und faßte sie scharf ins Auge, »aber seine Aura sieht extrem gesund aus. Extrem.«
»Schätze, Sie ha’m auch Ihre spirituelle Ader, was?-«-sagte der Penner. Sein Blick glitt immer noch argwöhnisch zwischen Ralph und Lois hin und her, aber jetzt flackerte schwache Hoffnung in seinen Augen.
»Wissen Sie, das stimmt«, sagte Ralph. »Und die ist in letzter Zeit so richtig aufgeblüht.« Er schürzte die Lippen, als wäre ihm gerade ein interessanter Gedanke gekommen, und atmete ein. Ein hellgrüner Lichtstrahl schoß aus der Aura des Penners, überquerte die drei Meter zwischen ihm und Lois und drang in Ralphs Mund ein. Der Geschmack war deutlich und sofort zu identifizieren: Boone’s Farm Apfelwein. Rauh und derb, aber dennoch irgendwie angenehm - das Funkeln eines Arbeiters haftete ihm an. Mit dem Geschmack stellte sich auch ein Gefühl der Kraft ein, das war gut, außerdem eine scharf umrissene Klarheit des Denkens, und das war noch besser.
Inzwischen hielt Lois ihm einen Zwanzigdollarschein hin. Der Penner sah ihn aber nicht gleich; er sah stirnrunzelnd zum Himmel hinauf. In dem Moment schoß ein zweiter hellgrüner Strahl aus seiner Aura. Er schoß wie der gleißende Lichtstrahl einer Taschenlampe über das Unkraut neben dem Kellerloch und verschwand in Lois’ Mund und Nase. Der Geldschein in ihrer Hand zitterte kurz.
[»O Gott, das ist so gut! Schmeckt wie der Wein, den Paul immer getrunken hat, wenn er sich Samstag abends die Red Sox angesehen hat!«]
»Gottverdammte Düsenjäger von der Charleston Air Force Base!« schrie der Penner mißbilligend. »Solln die Schallmauer erst durchbrechen, wenn sie draußen über’m Meer sind! Ich hab mir fast in die Hose -« Sein Blick fiel auf den Geldschein zwischen Lois’ Fingern, und das Stirnrunzeln wurde noch tiefer. »Jetzt aber, wollnse mich verscheißern, oder was? Ich bin nich’ dumm, wissense. Ich trink vielleicht ab und zu mal gern einen, aber das macht mich noch lang nich’ dumm.«
Warten Sie nur ab, Mister, dachte Ralph. Das kommt noch.
»Niemand findet, daß Sie dumm sind«, sagte Lois. »Und es ist kein Witz. Nehmen Sie das Geld, Sir.«
Der Penner versuchte, seine finstere, argwöhnische Miene beizubehalten, aber nach einem weiteren eingehenden Blick auf Lois (und einem raschen Seitenblick zu Ralph), wurde sie von einem strahlenden, einnehmenden Lächeln verdrängt. Er ging auf Lois zu und streckte die Hand nach dem Geld aus, das er verdient hatte, ohne es überhaupt zu wissen.
Lois hob die Hand, bevor er den Geldschein nehmen konnte. »Aber denken Sie daran, daß Sie sich nicht nur etwas zu trinken, sondern auch etwas zu essen besorgen. Und Sie sollten sich vielleicht mal fragen, ob die Art und Weise, wie Sie leben, Sie glücklich macht.«
»Da haben Sie vollkommen recht!« rief der Penner enthusiastisch. Er ließ den Geldschein zwischen Lois’ Fingern nicht aus den Augen. »Auf jeden Fall, Ma’am! Auf der anderen Seite des Flusses ham sie ein Programm, Entziehung und Resozialisierung, wissense. Ich denk drüber nach. Wirklich. Ich denk jeden verdammten Tag drüber nach.« Aber sein Blick klebte nach wie vor an dem Zwanziger, und er sabberte fast. Lois warf Ralph einen kurzen, zweifelnden Blick zu, dann zuckte sie die Achseln und gab ihm den Schein. »Danke! Danke, Lady!« Er sah zu Ralph. »Diese Lady is ‘ne echte Prinzessin. Ich hoffe, Sie wissen das!«
Ralph schenkte Lois einen verliebten Blick. »Ja, das weiß ich durchaus«, sagte er.
Eine halbe Stunde später gingen die beiden zwischen den rostigen Schienen dahin, die in einer sanften Kurve am städtischen Golfplatz vorbeiführten… aber nach ihrer Begegnung mit dem Penner waren sie etwas höher über die Ebene der Kurzfristigen hinaufgestiegen (möglicherweise, weil der selbst ein bißchen high gewesen war), und sie gingen auch nicht gerade. Zum einen war wenig bis gar keine Kraftanstrengung erforderlich, und obwohl sich ihre Füße bewegten, kam es Ralph mehr wie ein Gleiten als wie ein Gehen vor. Und er war nicht sicher, ob man sie in der Welt der Kurzfristigen überhaupt sehen konnte; Eichhörnchen hüpften sorglos vor ihren Füßen herum und sammelten emsig Vorräte für den bevorstehenden Winter, und einmal sah er, wie Lois sich unvermittelt duckte, als ein Zaunkönig ihr fast einen Scheitel zog. Der Vogel wich aus und flatterte in die Höhe, als wäre ihm erst im letzten Moment klar geworden, daß sich ein Mensch in seiner Flugbahn befand. Die Golfspieler beachteten sie auch überhaupt nicht. In Ralphs Augen waren Golfspieler zwar ohnehin bis zur Besessenheit in ihr Spiel vertieft, trotzdem kam ihm dieser Mangel an Interesse extrem vor. Wenn er ein anständig angezogenes Paar gesehen hätte, das am hellichten Tag auf einem stillgelegten Gleis von GS&WM dahinspazierte, hätte er höchstwahrscheinlich eine kurze Auszeit genommen und sich gefragt, was sie im Schilde führen und wohin sie unterwegs sein mochten. Ich glaube, besonders neugierig wäre ich, weshalb die Dame ununterbrochen »Bleib, wo du bist, verflixtes Ding!« murmelte und dabei an ihrem Rock zupfte, dachte Ralph grinsend. Aber die Golfspieler warfen nicht einmal einen Blick zu ihnen herüber, obwohl ein Vierer auf dem Weg zum neunten Loch so nah an ihnen vorbei ging, daß Ralph hören konnte, wie sie sich Sorgen über eine sich abzeichnende Baisse auf dem Aktienmarkt machten. Der Gedanke, daß er und Lois wieder unsichtbar geworden waren - zumindest aber ziemlich konturlos - kam Ralph immer plausibler vor. Plausibel… und beunruhigend. Die Zeit vergeht schneller, wenn man weiter oben ist, hatte der alte Dor gesagt.
Die Spur wurde um so frischer, je weiter sie nach Westen kamen, und Ralph gefielen die Spritzer und Tropfen immer weniger. Wo der Glibber auf die Schienen getropft war, hatte er den Rost weggefressen wie ätzende Säure. Das Unkraut, auf das er getropft war, war schwarz und abgestorben-selbst das widerstandsfähigste war eingegangen. Als Ralph und Lois das dritte Grün des Golfplatzes von Derry passierten und in ein weiteres Dickicht von verkümmerten Bäumen und Unterholz eindrangen, zupfte Lois ihn am Ärmel. Sie zeigte nach vorne. Große Flecken von Atropos’ Ausscheidung glänzten wie ekelerregende Farbe auf den Stämmen der Bäume, die sich jetzt bis dicht an den Schienenstrang drängten, und in manchen Mulden zwischen den alten Schienen - wo einmal Schwellen gewesen waren, vermutete Ralph - standen ganze Lachen davon.
[»Wir nähern uns seinem Zuhause, Ralph.«]
[»Ja.«]
[»Was sollen wir tun, wenn er zurückkommt und uns dort findet?«]
Ralph zuckte die Achseln. Er wußte es nicht und war nicht sicher, ob es ihn kümmerte. Sollten sich die Mächte, die sie hier herumschoben wie Figuren auf einem Schachbrett - die Mr. K. und Mr. L. den Höheren Plan nannte -, sich darüber Gedanken machen. Sollte Atropos auftauchen, würde Ralph versuchen, dem kleinen kahlköpfigen Wichser die Zunge herauszureißen und ihn damit zu erdrosseln. Und wenn er damit jemandem auf die Füße trat, zu dumm aber auch. Er konnte keine Verantwortung für große Pläne und langfristige Geschäfte übernehmen; seine Aufgabe bestand jetzt darin, auf Lois aufzupassen, die gefährdet war, und zu versuchen, das Blutbad zu verhindern, das in wenigen Stunden hier in der Nähe stattfinden sollte. Und wer weiß? Vielleicht fand er sogar unterwegs noch etwas Zeit, seine eigene, zum Teil verjüngte Haut zu beschützen. Das alles mußte er tun, und wenn der bösartige kleine Pisser Ralph dabei in die Quere kam, würde einer von ihnen auf der Strecke bleiben. Und wenn das Mr. K. und Mr. L. nicht gefiel, hatten sie Pech gehabt.