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Lois las das fast alles aus seiner Aura - er sah es ihrer eigenen an, als sie ihn am Arm berührte und er sich zu ihr umdrehte.

[»Was soll das bedeuten, Ralph? Daß du versuchen willst, ihn umzubringen, sollte er sich uns in den Weg stellen?«]

Er dachte darüber nach, dann nickte er.

[»Ja, ganz genau das soll es bedeuten.«] [»Ralph?«]

Er sah sie mit hochgezogenen Brauen an.

[»Wenn es sein muß, werde ich dir dabei helfen.«]

Das rührte ihn auf absurde Weise… und er gab sich allergrößte Mühe, den Rest seiner Gedanken vor ihr zu verbergen: daß sie nur noch deshalb bei ihm war, damit er sie im Auge behalten und beschützen konnte. Der Gedanke rief ihm die Ohrringe wieder ins Gedächtnis zurück, aber er verdrängte das Bild hastig, weil er nicht wollte, daß sie seiner Aura etwas ansah -oder es auch nur vermutete.

Derweil waren Lois’ Gedanken in eine andere, etwas sicherere Richtung abgeschweift.

[»Selbst wenn wir reingehen und wieder rauskommen, ohne daß er auftaucht, wird er wissen, daß jemand da gewesen ist, oder nicht? Und wahrscheinlich wird er auch wissen, wer es war.«]

Ralph konnte es nicht bestreiten, sah aber nicht, was das großartig ausmachen sollte; sie hatten keine Alternative, zumindest momentan. Sie würden einen Schritt nach dem anderen machen und einfach hoffen, daß sie den morgigen Sonnenaufgang noch erleben würden. Aber wenn ich die Wahl hätte, würde ich ihn wahrscheinlich lieber verschlafen, dachte Ralph, und ein kleines, sehnsüchtiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Herrgott, es scheint Jahre her zu sein, seit ich zum letztenmal ausgeschlafen habe. Von da aus schweiften seine Gedanken zu Carolyns Lieblingsspruch ab, daß es ein langer Weg zurück ins Paradies war. Im Augenblick schien ihm, als wäre es das Paradies, einfach mal bis zum Mittag zu schlafen… oder ein bißchen länger.

Er nahm Lois’ Hand, dann folgten sie weiter der Spur von Atropos.

Zwölf Meter östlich des Sturmzauns an der Grenze des Flughafens hörten die rostigen Schienen auf. Atropos’ Spur allerdings ging weiter, wenn auch nicht lange; Ralph war ziemlich sicher, daß er die Stelle sehen konnte, wo sie aufhörte, und das Bild, daß er und Lois an die Speichen eines großen Rads gebunden waren, kam ihm wieder in den Sinn. Wenn er recht hatte, dann war Atropos’ Bau nur einen Steinwurf von der Stelle entfernt, wo Ed auf den dicken Mann mit den Düngerfässern auf der Ladefläche seines Pickups gestoßen war.

Windstöße trugen einen ekelhaften, fauligen Geruch aus unmittelbarer Nähe herbei, und aus etwas größerer Entfernung die Stimme von Faye Chapin, der jemandem mit seinem Lieblingsthema auf den Geist ging: »… was ich immer sage! Mah-jongg ist wie Schach, Schach ist wie das Leben, wenn man also eins von beiden spielen kann -« Der Wind legte sich wieder. Ralph konnte Fayes Stimme immer noch hören, wenn er die Ohren spitzte, aber die einzelnen Worte bekam er nicht mehr mit. Aber das machte nichts. Er hatte die Ansprache oft genug gehört und wußte ziemlich gut, wie sie ging. [»Ralph, dieser Gestank ist gräßlich! Oder etwa nicht?«] Er nickte, glaubte aber nicht, daß Lois ihn sah. Sie hielt seine Hand fest zwischen ihren beiden und sah mit großen Augen starr geradeaus. Die fleckige Spur, die vor den Türen des Bürgerzentrums angefangen hatte, endete sechzig Meter entfernt am Stamm einer windschiefen abgestorbenen Eiche. Die Ursache dafür, daß der Baum abgestorben war und nun so schief dastand, war offensichtlich: Eine Seite des stattlichen Relikts war von einem Blitz wie eine Banane geschält worden. Die Risse und Furchen und Wölbungen der grauen Rinde schienen die Umrisse halb versunkener Gesichter zu bilden, die lautlose Schreie ausstießen, und der Baum streckte die nackten Äste wie grimmige Schriftzeichen in den Himmel… sie hatten, jedenfalls in Ralphs Phantasie, eine unheimliche Ähnlichkeit mit den japanischen Schriftzeichen für Kamikaze. Der Blitz, der das Ende des Baums besiegelt hatte, hatte ihn nicht umwerfen können, aber er hatte sich auf jeden Fall größte Mühe gegeben. Der Teil des verzweigten Wurzelsystems Richtung Flughafen war aus dem Boden herausgerissen worden. Diese Wurzeln waren unter dem Maschendrahtzaun hindurchgewachsen und hatten ihn ein Stück weit in die Höhe gedrückt, eine glockenförmige Kurve, bei deren Anblick Ralph zum erstenmal seit Jahren an einen Freund aus Kindertagen namens Charles Engstrom denken mußte.

»Spiel nicht mit Chuckie«, pflegte Ralphs Mutter zu sagen. »Er ist ein schmutziger Junge. Ralph wußte nicht, ob Chuckie ein schmutziger Junge war oder nicht, aber er war total Banane, das stand fest. Chuckie Engstrom versteckte sich gerne mit einem langen Zweig, den er seinen »Spickestab« nannte, hinter dem Baum im Vorgarten seines Hauses. Wenn eine Frau im Rock vorbeikam, schlich Chuckie ihr auf Zehenspitzen hinterher, steckte den Zweig unter den Rocksaum und hob ihn hoch. Meistens konnte er die Farbe der Unterwäsche erkennen (die Farbe von Damenunterwäsche faszinierte Chuckie ungeheuer), bis ihnen klar wurde, was vor sich ging, und sie den hysterisch kichernden Jungen bis zu seinem Haus verfolgten und drohten, sie würden es seiner Mutter erzählen. Der Flughafenzaun, den die Wurzeln der alten Eiche aus dem Boden gezogen und nach oben gedrückt hatten, erinnerte Ralph daran, wie die Röcke von Chuckies Opfern ausgesehen hatten, wenn er sie mit seinem Spickestab hochgehoben hatte.

[»Ralph?«]

Er sah sie an.

[»Wer ist Biggy Stab? Und warum denkst du ausgerechnet jetzt an sie?«]

Ralph prustete vor Lachen.

[»Hast du das in meiner Aura gesehen?«]

[»Wahrscheinlich - ich kann es nicht mehr sagen. Wer ist sie?«]

[»Erzähl ich dir ein andermal. Komm jetzt.«]

Er nahm ihre Hand, dann gingen sie langsam auf die Eiche zu, wo Atropos’ Spur aufhörte, und in den immer stärkeren Fäulnisgeruch hinein, der seine Duftnote war.

Kapitel 25

Sie standen am Fuß der Eiche und sahen nach unten. Lois nagte zwanghaft an ihrer Unterlippe.

[»Müssen wir da runter, Ralph? Müssen wir wirklich?«]

[»Ja.«]

[»Aber warum? Was sollen wir tun? Atropos aussperren? Den Bau niederbrennen? Etwas zurückholen, das er gestohlen hat? Ihn töten? Was?«]

Er wußte es nicht davon abgesehen, daß er Joes Kamm und Lois’ Ohrringe wiederhaben wollte… aber er war sicher, er würde es wissen, sie beide würden es wissen, wenn der Zeitpunkt gekommen war.

[»Ich glaube, im Augenblick sollten wir einfach nur in Bewegung bleiben, Lois.«]

Der Blitz hatte wie eine kräftige Hand gewirkt, den Baum brutal nach Osten gestoßen und gleichzeitig ein klaffendes Loch am Wurzelansatz der Westseite gerissen. Für einen Mann oder eine Frau mit dem Sehvermögen der Kurzfristigen hätte dieses Loch zweifellos dunkel ausgesehen - und mit seinen abbröckelnden Rändern und den kaum sichtbaren Wurzeln, die sich im Inneren wanden wie Schlangen, vielleicht ein wenig furchteinflößend, aber ansonsten nicht besonders ungewöhnlich.

Ein Kind mit einer ausgeprägten Phantasie würde vielleicht mehr sehen, dachte Ralph. Der dunkle Raum unter dem Baumstamm weckt vielleicht Gedanken an Piratenschätze… Verstecke von Banditen… die Höhle eines Trolls…

Aber Ralph glaubte, daß nicht einmal das phantasievollste Kind das düstere rote Leuchten würde sehen können, das unter dem Baum hervordrang, oder daß die zuckenden Wurzeln in Wirklichkeit holperige Sprossen waren, die an einen unbekannten (und zweifellos unerfreulichen) Ort hinabführten.