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Nein - nicht einmal ein phantasievolles Kind würde das sehen… aber möglicherweise spüren.

Richtig. Und wenn es genügend Verstand hatte, würde es weglaufen als wären ihm sämtliche Dämonen der Hölle auf den Fersen. Wie er und Lois, wenn sie der Vernunft gehorchen würden. Wären da nicht Lois’ Ohrringe. Wäre da nicht Joe Wyzers Kamm. Wäre da nicht sein eigener verlorener Platz im Plan. Und wären da selbstverständlich nicht Helen (und möglicherweise Nat) und die zweitausend anderen, die sich heute abend im Bürgerzentrum aufhalten würden. Lois hatte recht. Sie mußten etwas tun, und wenn sie jetzt kniffen, würde dieses Etwas für immer ungeschehenes Geschehen bleiben.

Und das sind die Seile, dachte er. Die Seile, mit denen die Mächtigen uns arme, verwirrte kurzfristige Kreaturen an ihr Rad fesseln.

Er stellte sich Klotho und Lachesis nun durch eine helle Linse des Hasses vor, und er dachte, wenn die beiden jetzt hier wären, hätten sie einen ihrer unsicheren Blicke gewechselt und wären einen Schritt oder zwei zurückgewichen.

Und dazu hätten sie einen Grund gehabt, dacht er. Allen Grund.

[»Ralph? Was ist los? Warum bist du so wütend?«]

Er hob ihre Hand an die Lippen und küßte sie.

[»Nichts weiter. Komm mit. Gehen wir, bevor wir den Mut verlieren.«]

Sie sah ihn noch einen Moment an, dann nickte sie. Und als Ralph die Beine in das klaffende, mit Wurzeln eingefaßte Loch am Fuß des Baums steckte, war sie direkt neben ihm.

Ralph rutschte auf dem Rücken unter den Baum und hielt die freie Hand vor das Gesicht, damit ihm keine Erde in die offenen Augen fiel. Er versuchte, nicht zusammenzuzucken, wenn Wurzeln ihm über den Hals strichen oder sich ihm in den Rücken bohrten. Der Geruch unter dem Baum war so durchdringend, daß man ihn fast greifen konnte, ein abstoßender Affenhausgestank, bei dem einem kotzübel wurde. Er konnte sich einreden, daß er sich daran gewöhnen würde, bis er ganz unter dem Loch in der Eiche war, doch dann ging es nicht mehr. Er stützte sich auf einen Ellbogen und spürte, wie kleinere Wurzeln nach seiner Kopfhaut griffen und baumelnde Rindenstücke ihm die Wangen streichelten, und dann gab er das gesamte Frühstück von sich, das sich noch im Vorratstank befand. Er konnte hören, wie Lois links von ihm seinem Beispiel folgte.

Eine schrecklicher, von Schwindel begleiteter Schwächeanfall schlug über ihm zusammen wie eine Welle am Strand. Der Gestank war so überwältigend, daß er ihn fast zu essen schien, und er konnte die rote Substanz, der sie zu diesem Ort des Grauens unter dem Baum gefolgt waren, überall auf seinen Händen und Armen sehen. Es war schlimm gewesen, das Zeug nur anzusehen; jetzt badete er regelrecht darin, um Gottes willen.

Etwas griff nach seiner Hand, und er ließ sich fast von seiner Panik überwältigen, bis ihm klar wurde, daß es Lois war. Er verschränkte seine Finger mit ihren.

[»Ralph, du mußt ein Stückchen emporsteigen! Dann ist es besser! Du kannst atmen!«]

Er begriff sofort, was sie meinte, und mußte sich zurückhalten, sich im letzten Moment wieder tiefer sinken lassen. Hätte er das nicht getan, wäre er wie eine Rakete mit vollem Schub die Leiter der Wahrnehmung hinaufgeschossen.

Die Welt flackerte, und plötzlich schien etwas mehr Licht in diesem stinkenden Loch zu sein… und auch etwas mehr Platz. Der Geruch verschwand nicht, aber er wurde erträglich. Jetzt war es, als hielte man sich in einem kleinen Zelt voller Leute mit schmutzigen Füßen und Achselschweiß auf - nicht angenehm, aber man konnte damit leben, jedenfalls eine Weile.

Ralph stellte sich plötzlich das Zifferblatt einer Taschenuhr vor, deren Zeiger sich rasch bewegten. Ohne den erstickenden Geruch war es besser, aber dennoch blieb es ein gefährlicher Aufenthaltsort - angenommen, sie kämen erst morgen früh hier wieder heraus, und das Bürgerzentrum wäre nur noch ein rauchendes Loch an der Main Street? Und das war nicht ausgeschlossen. Hier unten war es unmöglich, die Zeit zu messen - kurzfristig, langfristig oder wie auch immer. Der Gedanke an sich war ein Witz.

Laß gut sein, Ralph-du kannst nichts dagegen tun, und du mußt atmen, also laß es gut sein.

Er versuchte es, und dabei fiel ihm ein, daß der alt Dor am Tag, als Ed mit dem Lastwagen von Mr. West Side Gardeners zusammengestoßen war, hundertprozentig recht gehabt hatte; es war besser, sich nicht in langfristige Geschäfte einzumischen. Und doch waren sie hier, der älteste Peter Pan und die älteste Wendy der Welt, und glitten unter einem verzauberten Baum in eine schleimige Unterwelt hinab, die keiner von ihnen sehen wollte.

Lois sah ihn an, das widerliche rote Leuchten erhellte ihr Gesicht, und ihre Augen blickten ängstlich umher. Er sah dunkle Spuren auf ihrem Bonn und stellte fest, daß es sich um Blut handelte. Sie nagte nicht mehr nur an ihrer Unterlippe, sie biß regelrecht hinein.

[»Ralph, alles in Ordnung?«]

[»Ich kann mit einem hübschen Mädchen unter eine alte Eiche kriechen, und da fragst du noch? Mir geht es bestens, Lois. Aber ich denke, wir sollten uns besser beeilen.«]

[»Gut.«]

Er tastete unter sich herum und stellte den Fuß auf eine knorrige Eichenwurzel. Sie hielt sein Gewicht aus, und er ließ sich den steinigen Hang hinunterrutschen, zwängte sich unter einer weiteren Wurzel durch und hielt Lois dabei um die Taille gefaßt. Ihr Rock rutschte bis zu den Oberschenkeln hoch, und Ralph mußte wieder kurz an Chuckie Engstrom und seinen Spickestab denken. Er stellte amüsiert und verärgert zugleich fest, daß Lois sich bemühte, den Rock wieder nach unten zu ziehen.

[»Ich weiß, daß eine Dame nach Möglichkeit immer versucht, den Rock unten zu lassen, aber ich glaube, wenn man unter alten Eichen in Trollhöhlen hinabrutscht, geht diese Regel über Bord. Okay?«]

Sie schenkte ihm ein verlegenes, ängstliches Lächeln.

[»Wenn ich gewußt hätte, was wir vorhaben, hätte ich Hosen angezogen. Ich dachte, wir würden nur ins Krankenhaus gehen.«]

Wenn ich gewußt hätte, was wir vorhaben, dachte Ralph, hätte ich meine Aktien verkauft, sich abzeichnende Baisse am Aktienmarkt hin oder her, und hätte uns zwei Flugtickets nach Rio gekauft, Teuerste.

Er tastete mit einem Fuß umher, weil er wußte, wenn er abrutschte, würde er wahrscheinlich an einem Ort weit außerhalb der Reichweite der Ambulanzen von Derry landen. Direkt vor seinen Augen kam ein rötlicher Wurm aus dem Boden und ließ kleine Erdkrümel auf Ralphs Stirn rieseln.

Scheinbar eine Ewigkeit lang spürte er nichts, dann fand sein Fuß glattes Holz - diesmal keine Wurzel, sondern so etwas wie eine richtige Stufe. Er rutschte nach unten, ohne Lois’ Taille loszulassen, und wartete, ob das Ding, worauf er stand, unter ihrer beider Gewicht zerbrechen würde.

Es hielt und war breit genug für sie beide. Ralph sah nach unten und stellte fest, daß es sich um die oberste Stufe einer schmalen Treppe handelte, die in eine rot getönte Dunkelheit hinabführte. Sie war für ein - und möglicherweise von einem -Geschöpf gebaut worden, das viel kleiner als sie selbst war, weshalb sie sich ducken mußten, aber es war immer noch besser als der Alptraum der letzten Augenblicke.

Ralph sah Tageslicht durch das gezackte Loch über ihnen, und seine Augen schauten mit einem Ausdruck dümmlicher Sehnsucht aus seinem schmutzigen, schweißüberströmten Gesicht. Das Tageslicht war ihm noch nie so verlockend und so fern vorgekommen. Er drehte sich zu Lois um und nickte ihr zu. Sie drückte seine Hand und erwiderte das Nicken. Gebückt und jedesmal zusammenzuckend, wenn eine herabhängende Wurzel ihnen über die Hälse strich, gingen sie die Treppe hinunter.

Der Abstieg schien endlos zu sein. Das rote Licht wurde heller, der Gestank von Atropos durchdringender, und Ralph stellte fest, daß sie beide »emporstiegen«, während sie nach unten gingen; ihnen blieb keine andere Wahl, wenn sie nicht von dem Gestank überwältigt werden wollten. Er redete sich immer wieder ein, daß sie nur taten, was sie tun mußten, daß bei einem Unternehmen dieser Bedeutung jemand den Zeitplan im Auge behalten würde -jemand, der ihnen einen Stoß versetzte, wenn es zu knapp wurde -, aber Sorgen machte er sich trotzdem. Denn möglicherweise gab es keinen mit einer Stoppuhr, keinen Unparteiischen oder Linienrichter in Zebrastreifenhemden. Alles ist offen, hatte Klotho gesagt.