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Als Ralph sich gerade fragte, ob die Treppe bis in die Hölle hinunterführte, hörte sie auf. Ein kurzer, gemauerter Korridor, nicht höher als ein Meter zwanzig und etwa sechs Meter lang, führte zu einem Torbogen. Dahinter flackerte und pulsierte das rote Leuchten wie der Widerschein eines Brennofens.

[»Komm mit Lois, aber rechne mit allem. Rechne mit ihm.«]

Sie nickte, zog ihren rutschenden Slip wieder hoch und ging neben ihm den schmalen Flur entlang. Ralph trat gegen etwas, das kein Stein war, und bückte sich, um es aufzuheben. Es war ein roter Plastikzylinder, an einem Ende breiter als am anderen. Nach einem Moment wurde ihm klar, worum es sich handelte: um den Griff eines Springseils. Drei-sechs-neun, die Gans trank Wein.

Misch dch in nichts ein, was dich nichts angeht, Kurzfristiger, hatte Atropos gesagt, aber er hatte sich eingemischt, und nicht nur deswegen, was die kleinen kahlköpfigen Ärzte Ka nannten. Er hatte sich eingemischt, weil ihn doch etwas anging, was der kleine Dreckskerl vorhatte, auch wenn dieser das Gegenteil denken mochte. Derry war seine Stadt, Lois Chasse war seine Freundin, und Ralph verspürte den aufrichtigen Wunsch in sich, Doc Nr. 3 dafür büßen zu lassen, daß er Lois’ Diamantohrringe genommen hatte.

Er warf den Griff des Springseils weg und ging weiter. Einen Augenblick später gingen er und Lois unter dem Torbogen durch, blieben wie angewurzelt stehen und sahen in Atropos’ unterirdische Behausung. Mit den ineinander verschränkten Händen und den aufgerissenen Augen sahen sie mehr denn je wie Kinder in einem Märchen aus - nicht wie Peter Pan und Wendy, sondern wie Hansel und Gretel, die nach tagelangem Herumirren im dichten Wald das Knusperhaus der Hexe gefunden hatten.

[»Oh, Ralph. O mein Gott, Ralph… siehst du das?«]

[»Pssst, Lois.«]

Direkt vor ihnen lag eine kleine, finstere Kammer, die Küche und Schlafzimmer in einem zu sein schien. Der Raum wirkte schmutzig und unheimlich zugleich. In der Mitte stand ein niederer runder Tisch, bei dem es sich, wie Ralph annahm, um das abgesägte Oberteil eines Fasses handelte. Die Überreste einer Mahlzeit - ein grauer, ranziger Brei, der wie aufgelöste Hirnmasse aussah, die in einer gesprungenen Suppenterrine gerann - stand darauf. Es gab einen einzigen schmutzigen Klappstuhl. Rechts vom Tisch stand eine primitive Kommode, die aus einer rostigen Stahltonne bestand, auf der eine Toilettenschüssel balancierte. Ein unvorstellbar übler Gestank ging davon aus. Einziger Schmuck des Zimmers war ein Spiegel mit Messingrahmen an einer Wand, dessen Oberfläche durch das Alter so nachgedunkelt und beschlagen war, daß Ralph und Lois darin aussahen, als würden sie drei Meter unter der Wasseroberfläche treiben.

Links von dem Tisch befand sich eine karge Schlafgelegenheit, die aus einer schmutzigen Matratze und einem mit Stroh oder Federn vollgestopften Jutesackbestand. Auf diesem Kissen und der Matratze, auf der es lag, leuchtete der nächtliche Schweiß der Kreatur, die hier zu schlafen pflegte. Die Träume in diesem Jutekissen würden mich in den Wahnsinn treiben, dachte Ralph.

Irgendwo, Gott allein wußte, wie tief unter der Erde, tropfte Wasser.

Auf der anderen Seite der Behausung befand sich ein zweiter Torbogen, hinter dem sie eine vollgestopfte, surrealistische Rumpelkammer erkennen konnten. Ralph blinzelte tatsächlich zwei-oder dreimal, um ganz sicher zu sein, daß er tatsächlich sah, was er zu sehen glaubte.

Genau das ist die Stelle, dachte er. Was immer wir suchen, es ist hier.

Lois ging wie hypnotisiert auf den zweiten Torbogen zu. Ihre Lippen bebten ängstlich, aber in ihren Augen stand eine hilflose Neugier - ganz bestimmt hatte Blaubarts Frau denselben Gesichtsausdruck gehabt, als sie den Schlüssel im Schloß des verbotenen Zimmers ihres Mannes umgedreht hatte. Ralph war plötzlich überzeugt, daß Atropos mit hoch erhobenem rostigen Skalpell direkt hinter diesem Torbogen lauern würde. Er eilte hinter Lois her und hielt sie auf, bevor sie durchgehen konnte. Er hielt sie am Oberarm fest, legte einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf, bevor sie sprechen konnte.

Er kauerte sich nieder und preßte die Finger einer Hand auf den gestampften Boden, wodurch er wie ein Läufer aussah, der auf den Knall der Startpistole wartet. Dann schnellte er durch den Torbogen (und genoß die blitzschnelle Reaktion seines Körpers selbst in diesem Augenblick), landete auf der Schulter und rollte sich ab. Mit den Füßen traf er eine Pappschachtel, die ein Durcheinander von Gegenständen preisgab, als sie umkippte: Handschuhe und Socken, die nicht zusammenpaßten, ein paar alte Taschenbücher, ein Paar Bermudashorts, einen Schraubenzieher mit einer rostroten Substanz - möglicherweise Farbe oder Blut - darauf.

Ralph ließ sich auf die Knie sinken und sah zu Lois, die unter dem Torbogen stand und die Hände unters Kinn hielt. Es war niemand neben dem Torbogen zu sehen, und es hätte auch niemand Platz gehabt. Auf beiden Seiten waren weitere Kartons gestapelt. Ralph las die Aufschriften darauf staunend: Jack Daniels, Gilbey’s, Smirnoff, J&B. Atropos, schien es, war ebenso verrückt nach Spirituosenkartons wie alle anderen, die es nicht fertigbrachten, etwas wegzuwerfen.

[»Ralph? Ist es sicher?«]

Sicher? Das Wort war ein Witz. Aber er nickte und streckte die Hand aus. Sie kam hastig zu ihm, zog unterwegs noch einmal heftig den Slip hoch und sah sich mit wachsendem Staunen um.

Als sie auf der anderen Seite des Torbogens in Atropos’ trostloser kleiner Wohnung gestanden hatten, hatte dieser Stauraum groß ausgesehen. Jetzt, wo sie tatsächlich darin standen, sah Ralph, daß er mehr als das war; Räume dieser Größe nannte man normalerweise Lagerhallen. Gänge verliefen zwischen gewaltigen, baufälligen Türmen aus Gerumpel. Nur die Sachen direkt an der Tür waren in Kartons verstaut; der Rest lag bunt durcheinandergewürfelt und bildete etwas, das zu zwei Teilen Irrgarten und zu drei Teilen eine Falle war. Ralph kam zum Ergebnis, daß nicht einmal das Wort Lagerhalle eine hinreichende Beschreibung bot - dies war ein unterirdischer Vorort, und Atropos konnte überall lauern… und wenn er hier war, beobachtete er sie wahrscheinlich.

Lois fragte nicht, was sie da vor sich hatten; er sah ihrem Gesicht an, daß sie es bereits wußte. Als sie das Wort ergriff, sprach sie mit einer verträumten Stimme die Ralph eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

[»Er muß so ungeheuer alt sein, Ralph.«]

Ja. So ungeheuer alt.

Zwanzig Meter tiefer in dem Raum, der von dem selben geisterhaften roten Leuchten wie die Treppe erhellt wurde, konnte Ralph ein großes Speichenrad auf einem Lehnstuhl liegen sehen, der wiederum auf einer gesprungenen alten Heißmangel stand. Als er dieses Rad sah, fröstelte ihn noch mehr; es war, als wäre die Metapher, die er sich im Geiste zurechtgelegt hatte, um das Prinzip des Ka zu versinnbildlichen, plötzlich zum Leben erwacht. Dann bemerkte er das rostige Eisenband um das Rad herum und überlegte sich, daß es wahrscheinlich von einem jener »Gay-Nineties«-Fahrräder stammen mußte, die wie zu groß geratene Dreiräder aussahen.

Es ist tatsächlich der Reifen eines Fahrrads, und er ist mindestens hundert Jahre alt, dachte er. Der Gedanke führte ihn zu der Frage, wie viele Menschen - wie viele Tausende und Zehntausende - in und um Derry gestorben waren, seit Atropos dieses Rad irgendwie hier heruntergeschafft hatte. Und wie viele von diesen Tausenden waren zufällige Tode gewesen?

Und wie weit geht er zurück? Wie viele Jahrhunderte?

Das konnte man selbstverständlich unmöglich sagen; möglicherweise bis zum Anbeginn, wann immer und wie immer der auch gewesen sein mochte. Und während dieser ganzen Zeit hatte er von jedem, den er sich vorgeknöpft hatte, ein kleines Andenken genommen… und hier waren sie alle.

Hier waren sie alle.

[»Ralph!«]

Er drehte sich um und sah, daß Lois beide Hände ausstreckte. In einer hielt sie einen Panama, aus dessen Krempe ein Stüc k herausgebissen worden war. In der anderen einen schwarzen Nylonkamm, wie man ihn in jedem Kramladen für einsneunundzwanzig kaufen konnte. Ein geisterhafter orangegelber Schimmer haftete ihm noch an, was Ralph nicht überraschte. Jedesmal, wenn sein Besitzer ihn benutzt hatte, mußte er ein wenig von dem Leuchten der Aura und der Ballonschnur angenommen haben, wie Schuppen. Und es überraschte ihn nicht, daß der Kamm bei dem Hut lag; als er beide zum letztenmal gesehen hatte, waren sie auch zusammen gewesen. Er erinnerte sich an das sarkastische Grinsen von Atropos, als er den Panama abgezogen und so getan hatte, als würde er den Kamm an seinem eigenen kahlen Schädel benützen.