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Das Telefon weckte mich am nächsten Morgen eine halbe Stunde, bevor ich zu meinem ersten Akquisetermin in Oberkassel erscheinen musste. Den Wecker hatte ich offenbar verschlafen, aber zum Glück rief Lisbeth an und meldete sich wieder zurück zur Arbeit. Wir verabredeten uns in Oberkassel, und ich nahm nach der schnellsten Dusche meines Lebens das zweite Taxi innerhalb von zehn Stunden. Damit musste umgehend wieder Schluss sein, sonst würden die Taxikosten mich in den Ruin treiben, bevor mein Geschäft den ersten bescheidenen Gewinn abwarf.

Die Akquisetermine vor Ort waren für mich einfacher und angenehmer, wenn Lisbeth dabei war, denn viele Männer wollten die Frau, die demnächst in ihrer Wohnung ein und aus ging, persönlich kennenlernen.

Der erste Termin an diesem Vormittag führte uns in eine Junggesellenbude der teureren Art. Der etwa dreißigjährige Mann im Dreiteiler, der seinen Beruf ungefragt als »Geld verdienen – und zwar viel Geld« angegeben hatte, wollte das Zweihundert-Quadratmeter-Loft picobello gereinigt und vierzehn Hemden pro Woche (»bei meinem Lifestyle kommt man mit einem Hemd am Tag einfach nicht aus«) gewaschen und gebügelt haben. Zusätzlich seien regelmäßig Delikatessen aus drei verschiedenen Geschäften zu besorgen und als nett angerichtete Platte für freitagabends fertig zu machen. Den Champagner würde er selbst kalt stellen. Als Zeitbedarf hatte er maximal drei Stunden errechnet. Pro Woche.

»Wer macht diese Arbeiten denn bisher?«, fragte Lisbeth in neutralem Tonfall, während sie sich in dem ehemaligen Fabrikgebäude umsah. Der Boden war übersät mit Wollmäusen, Krümeln und langen Haaren, was auf dem unruhigen Industrieparkett allerdings erst auffiel, wenn man genau hinschaute. Wir schauten genau hin, Lisbeth natürlich noch genauer als ich.

»Ich hatte schon einige Putzfrauen, war aber mit deren Arbeitsauffassung nicht sehr zufrieden.«

Inzwischen hatten wir uns weiterbewegt und waren in der Küchenecke angekommen. Die Arbeitsflächen und Schranktüren waren fleckig, der Boden klebte, es roch nach Müll.

»Den Backofen müssten Sie natürlich vernünftig reinigen, ich weiß nicht, was sich die bisherigen Damen dabei gedacht haben, den einfach auszulassen. So kann man doch nicht arbeiten, dass man nur das Sichtbare erledigt und hofft, der Rest fiele nicht auf.«

Lisbeth öffnete die Backofentür und schaltete die Beleuchtung ein. Der Ofen sah aus, als sei darin etwas explodiert. Etwas Dunkles, Fettiges, Klebriges. Lisbeth schloss die Tür wortlos.

»Natürlich muss auch das Bett jede Woche neu bezogen werden. Einmal die Woche ist das Mindeste.«

Unter dem Bett lag ein Kondom. Ich verzichtete auf eine nähere Betrachtung, ging aber davon aus, dass es benutzt war.

»Die Fenster am liebsten auch wöchentlich, wenn Sie das nicht schaffen, würde zur Not auch vierzehntägig reichen. Eine entsprechende Leiter bringen Sie sicher mit.«

Die Fenster hatten eine Gesamtfläche von geschätzten hundert Quadratmetern bei einer Höhe von vier Metern.

»Drei Stunden, sagten Sie?«, fragte Lisbeth.

»Höchstens. Das wird ja wohl reichen, oder? Bei Ihren Preisen will ich ja schließlich nicht nur für meine Putzfrau arbeiten, hahaha.«

Wir lachten nicht mit. Ich weiß nicht, was Lisbeth in dem Moment dachte, aber mir war klar: Aus seiner Bude hätte ich keine Leiche entsorgt.

»Herzchen, Sie haben eine ganz falsche Vorstellung davon, was eigener Hände Arbeit bedeutet«, sagte Lisbeth. »Ich würde allein für das Fensterputzen pro Reinigung etwa vier Stunden veranschlagen, und das dann nur von innen, denn von außen brauchen Sie einen Kran und den bringe ich sicher nicht mit. Eine Grundreinigung der Wohnung, die mehr als überfällig ist, schlüge mit circa zwanzig Stunden zu Buche und dann pro Woche ungefähr zehn Stunden, da ist das Einkaufen nicht mit eingerechnet.«

»Das ist ja wohl lächerlich«, rief der Jüngling entsetzt.

»Genau«, entgegnete Lisbeth ungerührt. »Ihr Lebensstil ist lächerlich. Eine Wohnung kostet nicht nur Miete und Nebenkosten, sie kostet auch Unterhalt. Und den Stil, den Sie hier gern zur Schau stellen würden, den wollen Sie sich offenbar nicht leisten. Umsonst ist er aber nicht zu haben. Ziehen Sie um, das ist der beste Rat, den ich Ihnen geben kann.«

Nun war der Dreiteiler zwar selbstverliebt bis in die Haarspitzen und ein arroganter Schnösel gewesen, aber immerhin hatte er mich mit seiner fesselnden One-Man-Show wenigstens für eine halbe Stunde gedanklich von meinem drängendsten Problem erlöst. Eine Wiederholung dieser Ablenkung war mir nicht vergönnt, denn der nächste Kunde des Vormittags hatte entweder selbst eine realistische Vorstellung von dem benötigten Arbeitsaufwand oder er vertraute auf Lisbeths Kalkulation. Ich bekam es nicht mit, kümmerte mich aber auch gar nicht darum, sondern ließ Lisbeth machen und nahm zur Kenntnis, dass sein Schlüssel an ihrem Schlüsselbund landete, während ich in Gedanken im Kofferraum meines Autos war.

Der dritte Termin des Vormittags, ein Professor der Heinrich-Heine-Universität, der uns sein Fachgebiet nicht genannt hatte, versuchte, Lisbeth in eine philosophische Diskussion zu verstricken.

»Glauben Sie nicht, dass die Entfremdung des Menschen von seiner eigenen Umgebung das Gefühl der Haltlosigkeit verstärkt, die viele Menschen in ihrem Leben spüren?«, fragte er.

Mit Gefühlen der Haltlosigkeit kannte ich mich seit Montagabend auch aus.

Lisbeth unterbrach die Inspektion seiner Küche und blickte ihn erstaunt an. »Halten Sie das feuchte Auswischen eines klebrigen Kühlschranks für…«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »heilsam?«

Der Professor wippte auf den Zehenspitzen und nickte langsam und ausdrücklich mit dem Kopf. Ich stellte mir vor, dass er in genau dieser Haltung vor seinen Studenten irgendeinen geisteswissenschaftlichen Diskurs führte. »Nun, viele Menschen fühlen sich den Kräften, die ihr Leben beherrschen, heute hilflos ausgeliefert. Sie empfinden einen starken Kontrollverlust in allen Bereichen ihres Daseins.«

Haltlosigkeit, Kontrollverlust, hilflos ausgeliefert – ich wusste genau, wovon der Mann sprach.

»Und Sie meinen, die Kontrolle über das Leben in ihrem Kühlschrank würde diesen Menschen die verlorene Sicherheit zurückgeben?«, entgegnete Lisbeth.

Das würde mich jetzt auch interessieren. Ich wäre zur Lösung meines Problems durchaus bereit, meine Wohnung zu putzen.

»Nun«, wieder dieses Wippen, »die Tatsache, dass diese Menschen auch noch in ihrem ganz intimen Rückzugsbereich fremde Kontrolle zulassen und die Eingriffe von außen bemerken, wenn sie in ihre Wohnung zurückkehren, könnte das Gefühl der Fremdbestimmtheit verstärken. Wohingegen die Fähigkeit, im privaten Bereich seines Lebens seine eigene Ordnung herzustellen und zu erhalten, durchaus beruhigend, ja, ich würde sogar sagen, befriedigend sein kann.«

Ja, ich würde auch eine ungeheure Befriedigung und Ruhe empfinden, wenn ich im privaten Bereich meines Lebens mal wieder Ordnung hergestellt hätte. Ich dachte dabei allerdings nicht an meine Küche. Und am liebsten hätte ich ihn gleich gefragt, ob er vielleicht eine Idee hätte, wo ich eine Leiche loswürde, die seit Tagen in meinem Kofferraum herumlag. Allerdings hütete ich mich, dem Herrn zu antworten. Das überließ ich Lisbeth.

»Glauben Sie, dass Sie ein glücklicheres Leben führten, wenn Sie vier bis sechs Stunden pro Woche auf Ihren Hausputz und die Wäschepflege verwendeten anstatt in dieser Zeit Bücher zu lesen oder Studenten zu unterrichten?«

Das Wippen brach schlagartig ab. »Ich hatte diese Betrachtung nicht persönlich, sondern mehr, äh, theoretisch gemeint«, entgegnete der Professor konsterniert.

»Entschuldigung«, sagte Lisbeth mit vollkommen ernstem Gesichtsausdruck. »Ich bin mehr der praktische Typ, über die Theorie müssen Sie wohl mit Ihresgleichen diskutieren.«

Damit war der Small Talk beim Herrn Professor erledigt, den Auftrag erhielten wir aber trotzdem.