Выбрать главу

»Die DNA?«, schlug ich nochmal vor.

»Eine DNA-Probe von der Leiche müsste man mit einer Probe von meinem Vater vergleichen«, sagte Lauenstein. »Aber er hat leider keine Haarsträhne an seinen Abschiedszettel geklebt. Also bleibt nur ein DNA-Vergleich zwischen ihm und mir. Das ist teuer. Ich bin mir nicht sicher, ob jeder beliebige Dorfpolizist, der einen toten Obdachlosen findet, die ganze Palette an Identifizierungsmöglichkeiten rauf und runter arbeitet. Vielleicht lässt er ihn einfach anonym verscharren. Ist bestimmt weniger Aufwand.«

Ich hatte bisher keine Erfahrungen mit der Polizei gemacht, weder positive noch negative, konnte also nicht einschätzen, wie der von Lauenstein zitierte beliebige Dorfpolizist mit der anonymen Leiche eines Obdachlosen umgehen würde.

»Wir müssen ihn finden«, sagte Lauenstein und drückte meinen Arm mit beiden Händen. »Erinnern Sie sich! Bitte! In welchen Waggon auf welchem Zug haben Sie ihn gelegt?«

Seine blauen Augen hypnotisierten mich.

Der Kerl macht Witze, dachte ich. Aber ein Blick auf mein verzweifeltes Gegenüber bewies mir das Gegenteil. Lauenstein meinte es ernst – todernst.

»Ich kann Ihnen zeigen, an welcher Rampe der Zug stand, und Ihnen die ungefähre Abfahrtszeit sagen, aber mehr weiß ich auch nicht«, sagte ich entschuldigend.

»Das reicht nicht«, sagte er. Es klang nicht anklagend, sondern eher verzagt. Enttäuscht.

Natürlich hatte er recht, das reichte nicht. Zumal ich mir nicht vorstellen konnte, wie er den weiteren Weg des Zuges verfolgen wollte. Die Schienen entlangzulaufen schien mir jedenfalls nicht das geeignete Vorgehen zu sein.

Wir saßen uns gegenüber, jeder in seine Gedanken versunken. Ich aß etwas von dem leckeren Mürbchen, denn die Regelmäßigkeit langsamer Kaubewegungen hatte mir noch immer beim Denken geholfen. Dass ich unter furchtbarem Stress stand und trotzdem essen konnte, fiel mir in dem Moment gar nicht auf.

Lauenstein stand auf, goss seinen Kaffee in den Ausguss, spülte die Tasse aus und nahm sich neuen Kaffee. Nur sein Mürbchen rührte er nicht mehr an.

In Gedanken ging ich alle meine Kunden und ihre Berufe durch. Da waren Banker, Börsenmakler, Werbeleute, Geschäftsleute mit Boutiquen auf der Kö oder in irgendwelchen Shoppingzentren, die an jeder Ecke der Stadt aus dem Boden schießen. Von einigen Kunden wusste ich nicht, was sie beruflich machten, zum Beispiel von Lauenstein, aber nach Stellwerksmitarbeitern der Deutschen Bahn sah keiner von denen aus. Irgendeine Möglichkeit musste es aber geben, den Weg des Güterzugs zu verfolgen.

»Kennen Sie niemanden bei der Bahn?«, fragte ich.

Lauenstein schüttelte den Kopf.

Mein Kopfweh hämmerte in der Hirnschale und ich fühlte mich völlig zerschlagen. Ich wollte nur noch ins Bett. Andererseits fühlte ich mich für den Schlamassel, in dem Lauenstein steckte, auch mitverantwortlich. Widerwillig ließ ich endlich den Gedanken zu, dass die Wiederbeschaffung der Leiche definitiv an mir hängen bleiben würde. Und der einzige Mensch, der mir dabei helfen konnte, war – Troll. Sie hatte in ihren siebzehn Praktika in den unterschiedlichsten Branchen ein riesenhaftes Beziehungsnetzwerk geknüpft, das mir jetzt bestimmt helfen konnte.

Ich sagte Lauenstein, dass ich eine Idee hätte und jemanden anrufen würde. Die tiefe Verzweiflung verschwand aus seinem Gesicht und machte einer vorsichtigen Hoffnung Platz. Er sah aus wie ein Junge, dessen kaputtes Lieblingsspielzeug vielleicht doch noch repariert werden kann.

Sein Vertrauen rührte mich.

Ich ging zum Telefon.

Troll meldete sich sofort.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte ich.

»Was gibt’s?«, fragte sie.

Ich hatte keine Zeit für lange Erklärungen.

»Ich muss eine Leiche wiederfinden, die ich Freitagnacht in einen Güterwaggon gelegt habe«, sagte ich.

»Hast du was geraucht?«, fragte Troll zurück.

»Kein Alkohol, kein Nikotin, keine sonstigen Drogen. Nur Hustensaft.«

»Ich komme«, sagte sie, und mir fiel ein Stein vom Herzen. »Als Erstes will ich den Beipackzettel sehen.«

Ich setzte mehr Kaffee auf, denn ohne Koffein ist Troll wie eine Schaufensterpuppe: Sie kann herumstehen und Kleider tragen, aber weder denken noch handeln. Lauenstein beobachtete meine von regelmäßigen Hustenanfällen unterbrochenen Bemühungen und zügelte sichtlich seine Ungeduld. Endlich klingelte es, ich öffnete die Tür und wurde von Troll förmlich überrannt.

»Mensch, ist das kalt«, sagte sie, während sie mich zur Seite drängte und an mir vorbei in die Küche stürmte. »Wer ist das denn?«, schob sie hinterher.

»Das ist…«, begann ich, während Troll sich an der Kaffeemaschine bediente.

»Rüdiger«, sagte Lauenstein schnell.

Troll und ich sahen uns an, ich verkniff mir das Lachen, sie nicht.

»Haben Sie Ihre Eltern wenigstens verklagt?«, fragte Troll. »Wegen seelischer Grausamkeit?«

Ich hielt die Luft an und beobachtete Lauenstein aus dem Augenwinkel. Nicht jeder versteht Trolls Humor und ihre direkte Art. Ich hätte gewettet, dass Lauenstein den Witz gar nicht kapieren würde. Diese Wette hätte ich verloren. Er grinste schief, das erste Mal, dass ich ein Grinsen an ihm sah. »Mein Anwalt sagt, dass die Aussicht auf Schadensersatz innerhalb der Familie verschwindend gering ist, deshalb habe ich es erst gar nicht versucht.«

Troll, die ihr Haar heute in bayrischen Rauten gefärbt trug, setzte sich mit ihrem Kaffee an den Tisch und sagte zu mir: »Gefällt mir, der Vogel. Wo ist der Beipackzettel?«

Dann entdeckte sie weitere Mürbchen in der Tüte und schob sich eins fast vollständig in den Mund.

Lauenstein blickte verständnislos zwischen uns hin und her. Ich winkte ab.

»Was ich am Telefon über die Leiche gesagt habe, war mein Ernst«, sagte ich.

Troll konnte mit dem Mürbchen im Mund nicht antworten, sie riss aber die Augen weit auf und schüttelte den Kopf.

»Ich habe einen Toten im Haus von Herrn, äh, Rüdiger gefunden und gedacht, dass das ein Einbrecher sei, der hineingekommen ist, weil ich die Tür nicht richtig abgeschlossen hatte.«

Troll starrte mich an. Reglos. Sie kaute nicht mehr, schluckte nicht mehr, schüttelte nicht mehr mit dem Kopf. Fast unheimlich.

»Ich habe die Leiche also weggeschafft und Freitagabend in einen Güterwaggon gelegt, der gleich darauf losfuhr.«

Troll verschluckte sich und hustete nasse Krümel durch die Gegend.

»Leider stellte sich jetzt heraus, dass die Leiche kein Einbrecher war, sondern vermutlich der Vater von Herrn, äh, Rüdiger und daher müssen wir sie wiederbeschaffen.«

Trolls Blick irrlichterte zu Lauenstein, blieb dort aber nicht lang haften, sondern kam langsam und unter heftigem Blinzeln zu mir zurück.

»Wie bekommen wir heraus, wo der Güterwaggon von Freitagnacht abgeblieben ist?«, fragte ich.

Troll war immer noch nicht in der Lage zu sprechen, doch sie nahm ihr Telefon aus der Tasche und zeigte darauf.

»Wen rufen wir an?«, fragte ich.

Sie zuckte mit den Schultern.

Lauenstein und ich blickten uns an. Sein Blick schien zu fragen, ob ich ernsthaft glaubte, dass dieses Wesen mit der bayrischen Flagge auf dem Kopf zur Lösung unseres kleinen Problems beitragen könne. Ich nickte verschwörerisch.

»Er heißt Richard«, sagte Troll, sobald sie wieder sprechen konnte. »Er kann uns sicher weiterhelfen. Hast du weitere Details?«

Ich versuchte, mich an die Uhrzeit und die Beladung des Güterzugs zu erinnern und zählte alles auf, was mir in den Sinn kam. Die Autos, der Molkereitankwagen, die Überseecontainer. Sie zeigte keine Regung und nuckelte ununterbrochen an ihrem Kaffeebecher.

»Ich gehe dann mal telefonieren«, sagte sie plötzlich und ging hinüber ins Büro.

Lauenstein und ich blieben schweigend zurück.