«Schon lange hier?«fragte ich ihn, als er uns die makellosen Fohlenställe zeigte.
«Fünf oder — äh — sechs Monate. «Die persönliche Frage schien ihn nicht zu stören. Er war gutmütig, hegte keinerlei Verdacht und hatte gesunde Nerven.
«Sie müssen eine Menge können, wenn Sie so jung schon einen solchen Job bekommen«, beglückwünschte ich ihn.
Nach einer ganzen Weile sagte er:»Sehen Sie, ich hab’ eben ein Gefühl für Pferde. Stuten fohlen fast immer nachts. Das kommt davon, daß sie draußen in der Wildnis ihre Jungen nur nachts zur Welt bringen, verstehen Sie?«
«Warum denn nachts?«fragte Walt verdutzt.
Wieder eine Pause. Mir wurde klar, daß er nicht bewußt nach Worten suchte, sondern daß es einfach eine Weile dauerte, bis sich sein instinktives Wissen zu Worten formte.
«Wenn die Stuten am Tag fohlen, dann kommt ‘ne hungrige Hyäne daher und reißt das Junge sofort. Fohlen kommen fertiger zur Welt als die meisten anderen Tiere. Sie können gleich auf den Beinen stehen, aber sie brauchen eine halbe Stunde zum Trockenwerden.«
«Aber hier müssen sie doch vor nichts davonlaufen«, widersprach Walt.
«Das weiß die Natur aber nicht«, erwiderte Kiddo sehr vernünftig.»Noch etwas: Stuten fohlen meistens ziemlich schnell. Manche machen das im Handumdrehen. Sehen Sie, ich weiß immer, wann eine Stute soweit ist. Dann geh’ ich meistens in den Stall und sorge dafür, daß alles in Ordnung geht.«
«Woher wissen Sie das?«fragte ich fasziniert.
Diesmal entstand eine viel längere Pause. Dann sagte er:
«Ich weiß nicht, woher ich das weiß. Ich fühl’s eben. Manchmal wach’ ich mitten in der Nacht auf und denk’ mir:
Rose ist jetzt bald dran, und ich geh’ zu ihr raus. Manchmal braucht sie keine Hilfe, aber manchmal hat das Fohlen auch die Nabelschnur um den Hals und erstickt fast. Sehen Sie, ich war mein ganzes Leben lang immer mit Pferden zusammen.«
«Wo waren Sie denn, bevor Sie hierherkamen?«fragte ich.
«Äh — überall. Vor einiger Zeit hatte ich ‘nen Job in Lexington, aber dort haben sie gesagt, ich komm’ nicht pünktlich genug zur Arbeit. «Er grinste plötzlich boshaft. Das breite Gesicht leuchtete dabei richtig auf.»Dann — äh — war ich bei ‘nem Kerl in Maryland. Der Stall fiel bald zusammen, und die Zäune waren morsch, das Unkraut ist ihm bei den Fenstern ins Haus gekrochen. Aber prima Stuten hat er gehabt. Eine davon war die Mutter von dem Pferd, das letztes Jahr den Preakness-Preis gewonnen hat. Ich geh’ aber nie selbst zu einem Rennen.«
«Und was kam nach Maryland?«fragte ich.
«Äh — hier. Ich hab’ in der Zeitschrift Vollblüter die Anzeige gelesen und drauf geschrieben. Eigentlich mehr aus Spaß. Hab’ nie erwartet, daß ich was hör’, hab’ ja gewußt, was für ein großes Gestüt das hier ist und so weiter. Aber Mr. Offen hat anscheinend keinen großen Geschäftsmann gesucht, sondern einfach jemanden mit Pferdeverstand. Er behält mich deswegen auch, obgleich er sagt, vor mir waren zwei andere da, die es nie länger wie ‘nen Monat ausgehalten haben.«
Darüber schien er sich keine Sorgen zu machen. Sein Standpunkt war: Der liebe Gott wird schon dafür sorgen. Angst kannte er nicht, und für den Winter sorgte er auch nicht vor. Sein >Gefühl für Pferde< war in der Tat unbezahlbar. Vermutlich würde er nie den besten Preis dafür herausschlagen, aber arbeitslos wurde er mit Sicherheit auch nicht.
Kiddo verabschiedete uns mit derselben ruhigen Freundlichkeit, mit der er uns alles gezeigt hatte. Auf dem Rückweg nach Santa Barbara waren Walt und ich uns darin einig, daß er kaum als Gegner in Betracht kam. Wahrscheinlich bewies er, wenn es darauf ankam, gegenüber Offen seine Treue, aber im Augenblick hatte Kiddo jedenfalls keine Ahnung, was vor sich ging.
«Es sei denn, er ist ein ausgezeichneter Schauspieler«, fügte Walt hinzu.
Ich schüttelte den Kopf.»Er hat uns nichts vorgemacht. Dafür waren keinerlei Anzeichen zu bemerken.«
Walt sah mich prüfend an und nahm seine Augen beinahe zu lange von der Straße.»Wissen Sie das eigentlich immer?«
Ich lächelte.»Das ist eine von diesen Fragen, die man nicht beantworten kann. Ich habe ein Gefühl dafür, genau wie Kiddo für seine Stuten. Aber wenn es mich gelegentlich im Stich läßt
— woher sollte ich das wissen?«
«Sie würden es sehr bald erfahren, wenn von der anderen Seite ein paar Geheimnisse durchsickerten«, sagte Walt.»Haben Sie jemals einen Bewerber durchgehen lassen, der sich nachher als Spion entpuppte?«
«Ja.«
«Wie oft?«
«Einmal.«
«Wahrscheinlich während Ihres ersten Jahres«, sagte Walt mit mildem Sarkasmus.
«In meinem zweiten Jahr. Er war der erste wirklich gefährliche Spion, mit dem ich zu tun hatte, und ich erkannte ihn nicht. Sechs Monate später erwischten ihn die Kollegen von der Spionageabwehr, aber da hatte er schon eine Menge Schaden angerichtet. In der Presse erschienen die üblichen bissigen Bemerkungen über die Nachlässigkeit unseres Kontrollsystems.«
«Und das nahmen Sie sich zu Herzen«, bemerkte Walt trocken.
«Ich denke schon.«
Nach etwa einer Meile fuhr er fort:»Und inzwischen sind Sie so gut geworden, daß man Sie zusammenschlägt. Was denken Sie sich eigentlich, wenn so etwas passiert?«
«Daß nun bald ein großer Fisch kommen muß und man mich aus dem Weg räumen will.«
«Also strengen Sie sich um so mehr an. «Das war eine Feststellung, keine Frage.
«Ja, so könnte man es ausdrücken.«
«Eines Tages wird man Sie umbringen.«
Ich gab ihm keine Antwort. Seufzend warf er mir einen Seitenblick zu.»Wahrscheinlich ist Ihnen das sogar gleichgültig.«
«In unserem Amt gibt’s noch eine ganze Menge anderer.«
Ohne ein weiteres Wort fuhr Walt bis Santa Barbara. Auf der Terrasse aßen wir zusammen mit Eunice und Lynnie zu Mittag. An diesem Morgen, so erzählten uns die beiden, hätten sie die langen Ohrringe gekauft, die bei jeder Kopfbewegung lustig hin und her schlenkerten. Lynnie hatte scharlachrote, Eunice grüne. Sonst waren sie genau gleich. Immer noch befreundet, dachte ich mit stiller Erleichterung. Immer noch harmonisch. Eine andere Frage war allerdings, ob Eunice bereit sein würde, mir einen kleinen Gefallen zu tun.
Wir aßen Muscheln und danach Makrelen. Lynnie meinte, bei dieser meerbetonten Ernährungsweise würden ihr noch Flossen wachsen. Als sie dann nach dem Kaffee ruhelos aufstand und erklärte, sie wolle noch ein paar Schritte am Strand tun, erhob sich Walt nach kurzem Zögern und bot ihr seine Begleitung an. Sie warf mir einen besorgten, fragenden Blick zu, dann wandte sie sich brüsk ab und ging mit ihm weg. Ihre Stimme klang viel zu fröhlich.
«Tun Sie dem Kind nicht so weh!«fauchte Eunice zornig.
«Ich will’s ja nicht.«
«Verdammt, Sie sehen zu gut aus.«
«Na klar. Damit lock’ ich die Vögel von den Bäumen.«
Es sollte sarkastisch klingen.»Kleine Ehefrauen vertrauen mir, weil ich so verdammt gut aussehe, immer die Geheimnisse ihrer Ehemänner an.«
Sie wirkte erschrocken. Das war etwas ganz Neues für sie, bisher hatte sie immer nur verteilt.
«Meinen Sie — Sie machen davon regelrecht Gebrauch?«
«Ich benutze das wie einen Dosenöffner. Und als Katalysator. Wer tut das nicht? Verkäufer, Politiker, Schauspieler, Frauen — alle machen es doch genauso.«
«Da soll doch gleich…«Ihre Stimme klang matt, aber gleichzeitig mußte sie lachen.
«Aber nicht bei Lynnie«, fügte ich betrübt hinzu.
«Das haben Sie wohl auch nicht nötig. Es war viel wirkungsvoller, wie Sie Dave aus dem Wasser zogen.«
Ich betrachtete Lynnie und Walt. Sie standen jetzt unten am Wasser.
«Deshalb also?«Ich richtete die Frage mehr an mich selbst.
«Heldenverehrung«, sagte Eunice bissig.»Freut Sie das wenigstens?«