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vor einem kleinen Heiligenbild die geweihte Ampel. Alles war sehr sauber; Möbel wie Fußboden waren spiegelblank ge-bohnert, und alles glänzte. Das ist Lisawetas Werk, dachte der junge Mann. Kein Stäubchen ließ sich in der ganzen Wohnung entdecken. Eine derartige Sauberkeit findet man oft bei bösen alten Witwen, spann Raskolnikow seinen Ge-danken weiter und schielte voll Neugier zu der Kattun-Por-tiere, die vor der Tür zu dem zweiten winzigen Kämmerchen hing. Dort standen das Bett und die Kommode der alten Frau, aber er hatte noch nie einen Blick in dieses Zimmer geworfen. Die ganze Wohnung bestand nur aus diesen zwei Räumen.

»Was steht zu Diensten?« fragte die Alte streng, die ihm in das Zimmer gefolgt war und sich wieder dicht vor ihn hingestellt hatte, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

»Ich habe ein Pfand gebracht, hier!« Er holte eine flache alte silberne Uhr aus der Tasche; auf der Rückseite zeigte sie die Darstellung eines Globus. Die Kette war aus Stahl.

»Aber das alte Pfand ist schon verfallen. Vorgestern ist die Frist von einem Monat abgelaufen.«

»Ich zahle Ihnen die Zinsen für einen weiteren Monat; haben Sie nur Geduld!«

»Es liegt nur an meinem guten Willen, lieber Herr: Geduld zu haben oder Ihr Pfand sofort zu verkaufen.«

»Wieviel geben Sie mir für die Uhr, Aljona Iwanowna?«

»Sie bringen immer nur solchen Kram, Herr; die Uhr ist kaum etwas wert. Für den Ring neulich habe ich Ihnen zwei Scheine gegeben, und wenn man so etwas neu beim Juwelier kauft, kriegt man es schon für anderthalb.«

»Geben Sie mir vier Rubel; ich löse die Uhr wieder aus, sie gehört meinem Vater; ich bekomme bald Geld.«

»Anderthalb Rubel und die Zinsen im voraus, wenn Sie wollen.«

»Anderthalb Rubel?!« rief der junge Mann.

»Wie Sie wünschen.« Die Alte gab ihm die Uhr zurück. Der junge Mann nahm Uhr und Kette und geriet in solchen Zorn, daß er schon gehen wollte; aber gleich darauf besann er sich, dachte daran, daß er sonst nirgends hingehen konnte

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und daß er auch noch aus einem anderen Grund gekommen war.

»Geben Sie her!« sagte er grob.

Die Alte griff in die Tasche, holte ihre Schlüssel hervor und ging hinter die Portiere in den Nachbarraum. Der junge Mann, inmitten des Zimmers allein geblieben, lauschte neu-gierig und überlegte. Er hörte, wie sie die Kommode auf-sperrte. Offenbar ist es das oberste Schubfach, dachte er. Die Schlüssel trägt sie also in der rechten Tasche ... sie hängen alle mitsammen an einem stählernen Ring ... Und dann ist da ein Schlüssel, dreimal so groß wie die anderen, mit einem zackigen Bart; natürlich gehört der nicht zu der Kommode ... Wahrscheinlich existiert da noch irgendeine Kassette oder ein Koffer ... das ist interessant. Koffer haben meist solche Schlüssel ... Ach, wie gemein ist das alles ...

Die Alte kam zurück.

»Da haben Sie das Geld, Herr; wenn ich Ihnen im Monat zehn Kopeken pro Rubel berechne, habe ich fünfzehn Ko-peken für einen Monat im voraus zu bekommen. Und außer-dem sind Sie mir nach demselben Zinsfuß für die früheren zwei Rubel noch zwanzig Kopeken im voraus schuldig. Macht also insgesamt fünfunddreißig. Sie bekommen demnach für Ihre Uhr einen Rubel fünfzehn Kopeken. Hier!«

»Wie? Also nur ein Rubel fünfzehn?«

»Genau.«

Der junge Mann wollte nicht mit ihr streiten und nahm das Geld. Er musterte die Alte und beeilte sich nicht mit dem Weggehen, als wünschte er noch etwas zu sagen oder zu tun, doch als wüßte er eigentlich selber nicht was.

»Vielleicht bringe ich Ihnen dieser Tage noch etwas, Al-jona Iwanowna ... aus Silber ... sehr hübsch ... eine Zi-garettendose ... Sobald ich sie von meinem Freund zurück-bekomme ...« Er wurde verlegen und schwieg.

»Na, darüber wollen wir uns dann unterhalten, mein Lieber.«

»Leben Sie wohl ... Aber Sie sitzen den ganzen Tag allein zu Hause – ist denn Ihre Schwester nicht da?« fragte er möglichst harmlos, während er in die Diele ging.

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»Was geht Sie denn meine Schwester an, Herr?«

»Gar nichts, ich habe nur gefragt. Und Sie sind gleich so ... Leben Sie wohl, Aljona Iwanowna!«

Raskolnikow ging in größter Verwirrung fort. Diese Ver-wirrung wurde immer stärker. Als er die Treppe hinabstieg, blieb er sogar mehrere Male stehen, als hätte ihn irgend etwas geradezu überwältigt. Und schließlich, schon auf der Straße, rief er: »O Gott, wie abscheulich ist das alles! Und will ich denn wirklich, wirklich ... Nein, das ist Unsinn, das ist albern!« fügte er energisch hinzu. »Und konnte mir wahrhaf-tig etwas so Entsetzliches in den Kopf kommen? Zu welchem Schmutz ist mein Herz doch fähig! Und vor allem: wie drek-kig, wie ekelhaft, wie widerlich, widerlich! ... Und ich habe schon einen ganzen Monat ...«

Doch er vermochte weder mit Worten noch mit Ausrufen seine Erregung auszudrücken. Das Gefühl grenzenlosen Ab-scheus, das sein Herz schon bedrückt und verwirrt hatte, als er auf dem Weg zu der Alten gewesen war, nahm jetzt ein solches Ausmaß an und wurde so überwältigend groß, daß er nicht wußte, wohin er sich in seinem Gram wenden sollte. Er ging wie ein Betrunkener den Bürgersteig entlang, ohne die Entgegenkommenden, mit denen er zusammenstieß, zu bemerken, und kam erst in der nächsten Straße zur Be-sinnung. Als er um sich blickte, sah er, daß er vor einem Kel-lerlokal stand, zu dem man vom Trottoir aus über eine Treppe hinuntersteigen mußte. Aus der Tür kamen gerade in diesem Augenblick zwei Betrunkene. Fluchend stützten sie einer den anderen und kletterten auf die Straße. Ohne lange nachzudenken, ging Raskolnikow sofort in den Keller hinunter. Bisher war er noch nie in eine Schenke gegangen, doch jetzt schwindelte ihm der Kopf, und zudem quälte ihn brennender Durst. Er hatte Lust, kaltes Bier zu trinken, um so mehr, als er seine plötzliche Schwäche dem Umstand zu-schrieb, daß er nichts im Magen hatte; er setzte sich in eine dunkle, schmutzige Ecke, an einen klebrigen kleinen Tisch, bestellte Bier und trank gierig das erste Glas. Sofort wurde alles leichter, und seine Gedanken wurden klarer. Das Ganze ist Unsinn, sagte er sich voll Hoffnung, und es ist gar kein

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Grund, in Verwirrung zu geraten! Nichts als physische Er-schöpfung! Ein Glas Bier, ein Stück Zwieback – und im nächsten Augenblick ist der Verstand wiederhergestellt, die Gedanken sind klar, die Absichten fest! O Gott, wie ekel-haft das alles ist! ... Trotz dieser abschätzigen Einstellung sah er jedoch fröhlich drein, als wäre er plötzlich von einer entsetzlichen Last befreit, und musterte die anwesenden Gäste mit freundlichen Blicken. Allerdings ahnte er auch im gleichen Augenblick dunkel, daß dieser ganze Stimmungsumschwung ebenfalls krankhaft war.

In der Schenke saßen nur noch wenige Leute. Gleich nach den beiden Betrunkenen, die ihm auf der Treppe begegnet waren, war noch eine ganze Gesellschaft, fünf Männer und ein Mädchen mit einer Ziehharmonika, gegangen. Danach wurde es ruhig und leer. Zurückgeblieben waren ein Angehei-terter, der hinter seinem Bier saß und aussah wie ein Klein-bürger; sein Gefährte, ein dicker, sehr großer Mann in kur-zem Kaftan und graubärtig, der – schon ziemlich stark an-getrunken – auf der Bank vor sich hin döste und von Zeit zu Zeit, ganz plötzlich und wie im Halbschlaf, mit den Fingern schnalzte und die Beine spreizte; und während er, ohne von der Bank aufzustehen, den Oberkörper hin und her wiegte, summte er irgendeinen Unsinn, bemüht, sich an den Text zu erinnern. Das Lied ging etwa so: