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War ein Jahr lang lieb zu ihr, War ein Jahr lang lieb zu ihr ...

Und manchmal, wenn der Mann gerade wieder einmal auf-wachte, klang es geradezu beseligt:

Ging heut auf der Straße da,

Dort mein früh-res Lieb-chen sah ...

Doch niemand nahm teil an seinem Glück; sein schweigen-der Gefährte betrachtete alle diese Ausbrüche geradezu feind-selig und mit Mißtrauen.

Schließlich war noch ein dritter Mann da, dem Aussehen nach ein Beamter im Ruhestand. Er saß allein vor seiner kleinen Schnapsflasche, nahm von Zeit zu Zeit einen Schluck und blickte sich im Kreise um. Auch er schien erregt zu sein.

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Raskolnikow war an Menschenansammlungen nicht ge-wöhnt und ging, wie bereits gesagt, jeder Gesellschaft aus dem Wege, besonders in letzter Zeit. Doch jetzt zog ihn plötz-lich etwas zu den Leuten hin. In ihm hatte sich gleichsam etwas Neues ereignet, und zugleich erfüllte ihn eine gewisse Gier nach Menschen. Er war so ermüdet von diesem Monat konzentrierter Qual und düsterer Erregung, daß er wenig-stens für eine Minute den Wunsch verspürte, in einer anderen Welt zu atmen, mochte die auch sein, wie sie wollte; und so blieb er jetzt trotz allem Schmutz, der ihn umgab, mit Ver-gnügen in der Schenke.

Der Besitzer des Lokals hielt sich in einem zweiten Raum auf, kam aber oft in die Schankstube, zu der er ein paar Stu-fen heruntersteigen mußte, wobei man zuerst seine stutzer-haften Schmierstiefel mit den großen roten Stulpen zu Ge-sicht bekam. Er trug einen Umhang und eine über und über dreckige Atlasweste, war ohne Halstuch, und sein ganzes Gesicht schien mit Fett eingeschmiert zu sein wie ein eisernes Schloß. Hinter dem Schanktisch standen ein Bursche von etwa vierzehn Jahren und ein jüngerer Knabe, der die Gäste be-diente. Auf der Theke lagen geschnittene Gurken, schwarzer Zwieback und in Portionen geteilter Fisch; das alles roch sehr schlecht. Die stickige Luft machte sogar das Sitzen zur Qual, und alles war so sehr mit Schnapsgeruch durchtränkt, daß man hätte meinen mögen, es könnte jemand allein von dieser Luft schon in fünf Minuten betrunken werden.

Wir treffen oft Menschen, selbst wenn sie uns noch völlig unbekannt sind, für die wir uns schon auf den ersten Blick interessieren, ganz plötzlich, unversehens, ehe wir noch ein Wort sagen können. Eben diesen Eindruck machte auf Raskolnikow jener Gast, der abseits an einem Tisch allein saß und wie ein Beamter im Ruhestand wirkte. Der junge Mann erinnerte sich später öfters dieses ersten Eindruckes und schrieb ihm sogar eine Art Vorbedeutung zu. Unablässig musterte er den Beamten, natürlich auch deshalb, weil der ihn ebenfalls starr ansah; es war offensichtlich, daß der

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andere den lebhaften Wunsch hatte, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Die übrigen Personen in dem Raum, auch den Schankwirt, betrachtete der Beamte gewissermaßen aus Ge-wohnheit, ja, geradezu mit Langerweile und zugleich auch mit einer Spur hochmütiger Geringschätzung, als wären das Leute von geringerem Stand und Herkommen, mit denen er nichts zu reden habe. Er war über die Fünfzig hinaus, von mitt-lerer Größe und kräftigem Körperbau, mit angegrautem Haar und einer großen Glatze, mit einem vom Trinken aufgedunsenen, gelben, ja fast grünlichen Gesicht und mit an-geschwollenen Lidern, hinter denen wie aus kleinen Schlitzen winzige, aber beseelte, gerötete Augen glänzten. Doch irgend etwas berührte sehr sonderbar an ihm: in seinem Blick leuch-tete gleichsam Begeisterung – also hatte er wohl einmal Ver-stand und Vernunft gehabt –, doch zugleich funkelte darin eine Art Irrsinn. Er trug einen alten, völlig abgerissenen schwarzen Frack, dem die Knöpfe fehlten. Ein einziger hielt noch irgendwie, und diesen hatte er auch zugeknöpft, weil er offenbar die Regeln des Anstands nicht verletzen wollte. Aus seiner Nankingweste sah ein ganz verdrücktes Ober-hemd hervor, verschmiert und mit Schnaps begossen. Das Ge-sicht war, wie bei Beamten üblich, rasiert, aber es war lange her, daß das zum letztenmal geschehen war, so daß dichte bläuliche Borsten die Wangen überzogen. Auch in seinen Be-wegungen lag wirklich etwas Würdevoll-Beamtenhaftes. Doch er schien unruhig zu sein; er raufte sich das Haar und stützte manchmal den Kopf gramvoll auf beide Hände, wobei er die durchgescheuerten Ellbogen auf den nassen, klebrigen Tisch setzte. Schließlich blickte er Raskolnikow starr an und begann laut und mit fester Stimme zu sprechen: »Darf ich es wagen, mein sehr geehrter Herr, mich mit einem anständigen Gespräch an Sie zu wenden? Denn obgleich Ihr Äußeres nicht sehr bedeutend wirkt, erkennt meine Erfahrung in Ihnen dennoch einen gebildeten und ans Trinken nicht gewöhnten Menschen. Ich habe Bildung immer hoch geschätzt, wenn Sie mit einem fühlenden Herzen Hand in Hand geht, und außer-dem bin ich Titularrat. Marmeladow ist mein Name, Titular-rat. Darf ich fragen, ob Sie im Staatsdienst gestanden haben?«

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»Nein, ich studiere ...« antwortete der junge Mann einiger-maßen erstaunt, sowohl über die absonderliche, gezierte Redeweise wie auch darüber, daß der Fremde ihn so gerade-heraus und ohne Umschweife angesprochen hatte. Trotz sei-nem eben erst für einen Augenblick empfundenen Wunsch nach irgendeiner wie auch immer beschaffenen Gemeinschaft mit Menschen spürte er bei dem ersten Wort, das wirklich an ihn gerichtet wurde, plötzlich das gewohnte unangenehme, gereizte Gefühl des Abscheus vor jeder fremden Person, die ihm nahekam oder nur nahekommen wollte.

»Also ein Student oder ein ehemaliger Student!« rief der Beamte. »Ich hab es mir ja gedacht! Erfahrung, geehrter Herr, langjährige Erfahrung!« Und mit einer Gebärde des Lobes tippte er sich mit dem Finger gegen die Stirn. »Sie waren Student oder haben sich mit den Wissenschaften befaßt! Doch erlauben Sie ...«

Er erhob sich taumelnd, nahm Flasche und Glas und setzte sich zu dem jungen Mann, ihm schräg gegenüber. Er war betrunken, doch sprach er beredt und gewandt, wobei er nur von Zeit zu Zeit bei einzelnen Stellen aus dem Geleise kam und die Wörter in die Länge zog. Er stürzte sich geradezu mit einer gewissen Gier auf Raskolnikow, als hätte auch er einen ganzen Monat lang mit niemandem gesprochen.

»Sehr geehrter Herr«, fuhr er beinahe feierlich fort, »Armut ist keine Schande, das ist richtig. Ich weiß auch, daß Trunken-heit keine Tugend ist, das ist noch richtiger. Aber betteln, sehr geehrter Herr, betteln ist eine Schande. In der Armut bewahrt man sich noch den Edelsinn der angeborenen Gefühle, als Bettler kann das niemand ... nie. Wenn man bettel-arm ist, wird man nicht einmal mehr mit dem Stock davon-gejagt, sondern mit dem Besen aus der menschlichen Gesell-schaft hinausgefegt, damit es nur ja beleidigend sei. Und das ist recht so; denn bin ich bettelarm, dann bin ich auch als erster bereit, mich selber zu beleidigen. Und aus diesem Grunde trinkt man dann! Sehr geehrter Herr, vor einem Monat hat Herr Lebesjatnikow meine Gemahlin verprügelt, und meine Gemahlin ist etwas ganz anderes als ich! Verstehen Sie, Herr? Gestatten Sie mir noch eine Frage – einfach so, aus bloßer

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Neugier: geruhten Sie schon einmal in den Heubarken auf der Newa zu übernachten?«

»Nein, noch nie«, antwortete Raskolnikow. »Wie kommen Sie darauf?«

»Nun ja, ich komme von dort, und es ist schon die fünfte Nacht, mein Herr ...«

Er schenkte sich ein, trank das Glas aus und wurde nach-denklich. Tatsächlich sah man auf seinem Anzug und sogar in seinem Haar einzelne Heuhalme, die dort hängengeblieben waren. Höchstwahrscheinlich hatte er sich diese fünf Tage nicht ausgezogen und nicht gewaschen. Besonders seine Hände waren schmutzig, fettig und rot, und seine Fingernägel waren schwarz.