Vor allem enthielt Eliesers Brief die dringende Aufforderung an die Familie Straßburg zu verlassen.
Löb las vor: »Der König von Polen bietet den Juden eine Vielzahl von Privilegien. Man weiß in Prag, dass aus dem ganzen Reich schon viele Juden in den Osten fliehen, in die Hauptstadt Krakau, wo das Schloss des Königs steht, und dann noch weiter in den Osten, wo die Menschen bereits russisch sprechen.«
Löb unterbrach sich, dann berichtete er weiter: »Elieser bittet also die ganze Familie dringend Straßburg zu verlassen: Man könne sich in Prag treffen, wo es eine sehr große und reiche jüdische Gemeinde gebe, die aber bei der Einstellung des Kaisers zu den Juden auch bereits gefährdet sei. Dann könne man gemeinsam in den Osten gehen und das Geschäft neu aufbauen, das Kapital könne man durch Briefe nach Prag in Sicherheit bringen, er habe alles vorbereitet. Der König von Polen biete Handelsprivilegien, von denen man im Reich nur träumen könne.«
Löb schwieg.
Nachum war sofort Feuer und Flamme: »Gut so – nach Polen, weg von den Christen!«
»In Polen gibt es genauso Christen wie hier im Reich.« Ein Lächeln huschte über Löbs Gesicht.
Esther schaute Christoph an. Man sah, wie sie dagegen ankämpfte, etwas zu sagen.
Christoph empfand eine eigenartige Unruhe: War das die Lösung? Im Osten war nicht nur die Familie Löbs sicher, dort war auch er sicher. Dort kannte ihn niemand.
Ganz neu anfangen und mit Esther!
Der alte Abraham erhob sich: »Christoph hat uns noch gar nicht berichtet, was die beiden in Offenburg ausgerichtet haben.«
Damit war das Thema Auswandern vorerst beendet.
Christoph begann sehr unsicher: Wie unwichtig erschien das alles auf einmal.
»Leider gibt es nicht viel zu sagen: Er ist wirklich der zweite Mörder, das steht fest.«
»Und – habt ihr herausbekommen, wer hinter den Morden und deiner Verfolgung steht?« Löb hatte sich nach vorne gebeugt.
»Das hätte ich gleich gesagt«, fuhr Christoph fort. »Als Philo ihn zum Geständnis des Mordes gebracht hatte und nun weiterfragte – da war auf einmal eine Mauer. Der Frosch wurde sehr sicher, frech und übermütig und keine Drohung half mehr. Plötzlich war es, als hätte er mächtige Helfer, sodass er vor uns keine Angst zu haben brauche.«
»Was genau hatte denn Philo gefragt, als der auf einmal so sicher wurde?«, fragte Löb gespannt.
»Ich war ja nicht dabei, schade, dass Philo nicht da ist, ihr könnt ihn ja noch selbst fragen. Aber ich habe es so verstanden, dass der Kerl wirklich Angst hatte, als Philo ihm drohte, dass wir sein Geschäft mit den Alraunen zerstören würden. Auch die Drohung, ihn an den Galgen zu bringen, hatte anfänglich offenbar noch Wirkung gezeigt. Aber als Philo nach dem Auftraggeber fragte, schien er wie verwandelt, herausfordernd und selbstsicher.«
»Was heißt das?«
»Vater, haben wir nicht wichtigere Dinge zu besprechen?«, unterbrach Nachum finster.
»Die Jugend kann noch nicht erkennen, was wichtig ist, lieber Nachum. Du musst dich noch ein klein wenig gedulden«, sagte Abraham müde.
»Ich kann es sagen«, antwortete Esther. »Als er persönlich bedroht war, bekam er es mit der Angst zu tun. Als aber der Auftraggeber hineingezogen wurde, da wusste er, dass der ihm helfen würde, weil sich dann der Auftraggeber selbst verteidigt.«
»Und das wohl mit Macht, ich meine mit wirklicher Macht«, sagte Löb, »auch hier ist wieder diese Macht spürbar, vor der wir immer wieder stehen und die so undurchschaubar ist.«
»Man rennt dagegen an wie gegen eine Mauer, von den Zahlen ganz zu schweigen.«
»Hat der Frosch sonst nichts gesagt?«
»Er hat noch etwas von einem kleinen Turm gesagt.«
»Kleinen Turm?«
»Als Philo ihn nach dem leeren Haus gefragt hat, das in der Nacht so erleuchtet war, ist er erschrocken: ›Was weißt du vom kleinen Turm?‹«
»Woraus wir schließen können, dass diese Nachricht mit dem Auftraggeber zu tun hat. Das ist nicht viel, aber es ist das Allererste, das sich mit einiger Sicherheit auf den Auftraggeber bezieht. Was für einen kleinen Turm kann er gemeint haben?«
»Einen Turm in der Befestigung vielleicht«, meinte Christoph, »sagt man zu einem der Türme Kleiner Turm?«
»Ich kenne keinen«, sagte Löb.
»Es kann sich auch um den Turm einer Kirche handeln«, überlegte Nachum.
»Ist an dem einsamen Haus mit den Kerzen so etwas wie ein kleiner Turm?«
»Wenn ich es mir genau überlege, so wissen wir wieder einmal gar nichts.« Christoph schüttelte traurig den Kopf.
»Doch, etwas ist deutlich geworden«, sagte Esther, »wir wissen ganz bestimmt, dass das leere Haus mit den brennenden Kerzen in der Nacht etwas mit dem Auftraggeber zu tun hat.«
Später, als der alte Abraham und die alte Esther zu Bett gegangen waren, bestürmte Nachum Löb: »Wir müssen darüber reden.«
»Es gehört sich nicht, Nachum, der Rat der Alten ist uns heilig!«
»Unsere Zukunft muss uns auch heilig sein.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen solclass="underline" Ich meine nicht, dass die Lage der Straßburger Juden so schlimm ist, wie Elieser in seinem Brief meint.« Löb blickte vor sich auf den Tisch.
Esther begann unsicher: »Wäre es nicht auch für Christoph besser, wenn wir alle zusammen auswandern würden?«
Nachum fuhr auf: »Das kann aber doch nicht für uns maßgeblich sein.«
»Ich meine, du wolltest auswandern?«, fragte Esther etwas lauter.
»So kommen wir nicht weiter. Da steht Christoph, und ich verstehe gut, dass er dazu nichts sagen kann«, sagte Löb mit scharfer Stimme.
»Ich bin müde und gehe hinauf.«
»Bleib da, Christoph, wenn wir schon darüber reden – und ich möchte meinen Kindern nicht das Reden verbieten – dann solltest du wissen, was gesagt wird, es betrifft ja auch dich.«
»Ich kann dazu nichts sagen.« Christoph mied den Blick von Esther.
»Du sollst auch nichts sagen. Aber du sollst hören, wie ich darüber denke. Ich meine, dass es aus der Entfernung schlimmer aussieht, als es ist. Auf der Straße ist es schlimm wie überall, aber ich habe Zugang zur Kaufmannsgilde, wenn ich auch nicht mehr Mitglied sein darf.«
»Siehst du, Vater!«
»Aber ich habe gute Kontakte zu allen Mitgliedern. Wir machen Geschäfte miteinander wie immer und ich weiß, dass sehr viele und sehr einträgliche Geschäfte ohne uns Juden nicht laufen könnten. Wir können Geld aufbringen, das sie nicht aufbringen können, weil sie keine Zinsen nehmen dürfen; wir haben Verbindungen, die sie nicht haben. Sie sind gescheit genug uns zu schonen.«
»Ich habe so etwas auf der Fähre gehört«, sagte Christoph, »ein Schmied hat gesagt, dass der Rat in Straßburg von den Juden abhängig sei oder so ähnlich.«
»Da seht ihr es. Ich täusche mich da nicht.«
»Vater, du weißt, was für schreckliche Verfolgungen es schon gegeben hat. In anderen Städten sind sie auch vom Handel mit uns Juden abhängig!« Nachum war aufgestanden. »Aus England hat man schon vor hundert Jahren alle Juden vertrieben. Ebenso aus Frankreich, wo sie unsere heiligen Bücher in riesigen Wagenladungen öffentlich verbrannt haben, allein in Paris fast fünfzig Karren voll! Jeder Jude weiß das. Und wie viel Juden wurden seit mehr als dreihundert Jahren in allen Ländern umgebracht, Vater!« Er stampfte mit dem Fuß auf.
»Setz dich wieder, Nachum, du siehst immer alles gleich zu schwarz! Du bist noch zu jung und zu hitzig und du weißt selbst, wie rasch du dich zu etwas hinreißen lässt.«
Esther runzelte die Stirn: »Sind auf der Fähre Namen genannt worden?«
»Nur einer, soweit ich mich erinnere. Dieser Dopfschütz, von dem einmal gesprochen wurde. Jetzt fällt es mir wieder ein: Er bekomme von den Juden sehr viel Geld.«
Löb lachte befreit: »Das Geld bekommt er ja von mir. Es ist wirklich sehr, sehr viel, mehr als ich jemals jemand geliehen habe. Gerade Herr Dopfschütz ist mir der wichtigste Garant, dass den Juden in Straßburg nichts geschieht. Er wäre strohdumm, wenn er anders handeln würde.«