Kinder sah er immer wieder vor sich, sechs Kinder. Einen Mann sah er an einem Bett. Ein Kind war krank. Er drückte das kleine Gesicht an seine Brust, wiegte es und sang ein leises Lied. Manchmal flüsterte er Namen, sechs Kosenamen. Er kannte sie nicht. Er weinte, ohne es zu merken. Dann sah er, wie die Kinder und die Frau festgebunden wurden. Die Flammen schlugen hoch und er sah sie nicht mehr. Dann kicherte er wieder und wusste nicht, warum. Wenn er kicherte, fror er so sehr, dass es ihn schüttelte. Aber er spürte nicht, dass er fror.
Er spürte die Stöße des Karrens, auf dem er angekettet lag. Er hörte die Rufe Mörder, Brunnenvergifter, und er hörte immer ein Kichern. Auch Vögel sah er, schwarze Vögel –
»Wir müssen ihn befreien.« Esther war Feuer und Flamme.
»Wie soll das gehen? Es ist sowieso alles zu gefährlich. Da können wir doch nicht hingehen und einen Gefangenen aus dem Gefängnis holen. Dazu einen, der nicht einmal der freien Reichsstadt Straßburg gehört, sondern der Stadt Bern!«
Esther hatte die Hände um die Knie verschränkt und wippte auf und ab: »Es wäre toll, wenn wir es könnten. Du und ich! Wir würden – « Sie hatte ihre schwarzen Augen auf Christoph gerichtet.
Nachum kam zurück, er warf einen schrägen Blick auf Christoph, seine Augen waren wie Kohlen: »Was habt denn ihr für Heimlichkeiten?«
Christoph wollte schnell etwas sagen, aber Esther kam ihm zuvor: »Wir überlegen gerade, wie wir den gefangenen Juden aus Bern aus dem Gefängnis holen können. Es geht ihm so schlecht, hat der Vater gesagt.«
»Es geht nicht. Das geht gar nicht«, sagte Christoph. Dann sah er Nachums Augen und verstummte.
Alle drei schwiegen. Die untergehende Sonne malte hoch auf der Wand des Rückgebäudes ein rötliches Dreieck, von unten kroch die Dunkelheit aus dem Gärtchen.
Nachum pfiff leise durch die Zähne: »Es ist ganz leicht.«
Esther hatte sich ganz zu Christoph gedreht.
Wie schön sie ist, dachte er atemlos.
Sie flüsterte fast, aber ihre Stimme war eindringlich: »Machst du mit? Wir verstecken ihn und pflegen ihn gesund. Nachum macht auch mit. Er sagt, es sei leicht. Bitte!«
Da gab er nach.
Sie schlichen in der Nacht aus dem Haus, was nicht schwer war, da die Kinder das volle Vertrauen der Eltern hatten.
»Das dürfen wir nicht missbrauchen«, hatte Christoph noch gesagt, bevor sie aufgebrochen waren.
»Eben, das rechtfertigen wir ja gerade«, sagte Nachum und seine Stimme klang übermütig. »Vater wollte ja auch, dass der Gefangene zu uns kommt. Er hat es ja erzählt.«
Gewaltig gegen das Licht eines untergehenden Mondes stand schräg vor ihnen die dunkle Masse des Münsters über den Häusern der Juden.
Sie mussten zum Diebsturm, was in der Nacht nicht schwer war. Sie durften sich nur nicht von einer Scharwache oder einem Nachtwächter erwischen lassen.
Nachum schien mehr und mehr von einer übertriebenen Fröhlichkeit und Zuversicht erfüllt? die Christoph nicht verstehen konnte: »Das gibt einen Spaß, wenn wir mit dem befreiten Juden ankommen. Das glaubt uns keiner!«
»Wie stellst du dir das überhaupt vor?«, fragte Christoph, dem es bei jedem Schritt das Herz zusammenzog.
»Lass das meine Sorge sein. Es ist ganz leicht. Was weißt denn du!«
»Du könntest es doch sagen. Wir sind doch alle in derselben Gefahr!«
»Ja, du könntest es uns ruhig sagen.« Die Stimme von Esther klang jetzt doch besorgt, wie sie am Ende einer schwarzen Gasse den Umriss des Diebsturms wie einen dicken Pfahl emporragen sahen.
Das Mondlicht hing noch an den höchsten Giebeln und nur der schwache Schein, der von diesem Licht in die Gasse herabfiel, wies ihnen den Weg. Ab und zu stolperten sie über Abfälle. Vor einigen Tagen hatte es geregnet und in den Gassen, die so eng waren, dass auch am Tag keine Sonne hineinfiel, standen noch Pfützen. Es roch faulig. Christoph spürte, wie Esther zitterte.
»Wir müssen leise sein«, mahnte Christoph.
»I wo, nein, müssen wir nicht!«, sagte Nachum ziemlich laut und kicherte.
Christoph verschlug es den Atem.
Dann rief eine grobe Stimme vor ihnen: »Halt, stehen geblieben! Wer ist da?«
Eine Gestalt mit einem Spieß trat vor die drei.
»Wir wollen den gefangenen Juden befreien«, sagte Nachum hell und deutlich, ja geradezu fröhlich, wie es Christoph schien.
»Was wollt ihr?«
»Den gefangenen Juden befreien.«
»Seid ihr verrückt geworden?«
»Ganz einfach: Wir kaufen dir den gefangenen Juden ab.«
»Was soll das? – Wer bist du überhaupt? – Der Stimme nach bist du doch nur ein Junge. Und die anderen?«
»Bist du allein?«, fragte Nachum.
Der Wächter streckte jetzt seinen Spieß vor. Christoph sah, wie sein Helm schimmerte.
»Wer wir sind, kann dir gleichgültig sein. Für dich ist bloß wichtig, dass wir reich genug sind, um dir hundert gefangene Juden abzukaufen.«
»Bürschlein, Bürschlein, so ein Vögelchen wie dich spieße ich sonst auf und brate es über dem Feuer als Vorspeise.«
»Sonst! Aber heute nicht. Heute bist du viel zu schlau. Heute spießt du niemand auf. Heute hörst du uns gut zu. Denn heute sollst du reich werden!«
Der andere schnaubte verächtlich.
»Die Judenheit der Stadt Straßburg schickt dir durch uns das hier!«
Man sah nicht recht, was Nachum auf der flachen Hand hielt. Es schien, als halte er ein Feuer mit einem bläulichen Schein in der Hand.
»Weißt du, was das ist?«
Christoph und Esther hörten atemlos zu.
»Das ist ein Diamant! So etwas hast du noch nie gesehen oder gar in der Hand gehabt. Mit diesem Stein brauchst du in deinem ganzen Leben nie mehr auch nur einen Handgriff zu arbeiten!«
»Du musst blödsinnig sein!« Der Wächter stampfte mit dem Spieß auf.
Genau das wollte auch Christoph sagen, aber er brachte kein Wort heraus.
»Hör mal, das ist nichts anderes als ein Lösegeld, wenn auch das größte, das in Straßburg jemals bezahlt worden ist. Es werden doch überall Gefangene mit Lösegeld ausgelöst!«
Man konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen. Aber Christoph konnte sich das begehrliche Leuchten der Augen vorstellen.
Der Wächter sagte sehr zögernd: »Er gehört nicht mir. Da kann ich ihn euch auch nicht auslösen.«
»Weshalb nicht?« Die Stimme Nachums wurde ungeduldig. »Du gibst uns den Gefangenen, der ist ja sowieso schon halb tot. Dann nimmst du diesen großen und schweren Diamanten, der vollkommen rein ist und wert in der Krone des Kaisers zu leuchten, und verschwindest aus Straßburg, gehst irgendwohin, nach Speyer, Frankfurt oder Paris oder Rom, verkaufst ihn für hunderttausend Gulden und hast künftig das schönste Leben, das man sich denken kann. Du kaufst dir ein Rittergut, eine Grafschaft, Titel, Ehren, was du willst.«
Es war, als halte der Wächter die Luft an.
Stille.
Dann war es wie ein Ruck: »Nein! Ein für alle Maclass="underline" Nein! Ich habe hier Frau und Kinder und will in nichts hineinkommen. Haut schnell ab oder ich rufe die Scharwache, dann könnt ihr dem Berner Juden selbst Gesellschaft leisten!«
Er hielt seinen Spieß gesenkt wie zu einem Angriff und machte einen Schritt vorwärts.
Christoph und Esther zogen Nachum weg, der sich sträubte und nach Christoph stieß.
»Du bist wohl total verrückt geworden: Vaters größten Diamanten. Was glaubst du, was der dir sagen wird!« Esthers Stimme war scharf.
Nachum lachte schon wieder: »Diamant! Der ist nichts mehr wert, sage ich euch. Für uns Juden ist der nichts mehr wert, keinen Heller ist der mehr wert!« Seine Stimme überschlug sich.
Christoph wollte ihn am Arm fassen.
»Und du lass mich los.« Er fasste mit einer Hand nach Christophs Arm und befreite sich mit einem heftigen Ruck.
»Was jetzt?«, fragte Christoph, als sie einige Gassen von dem Turm, dem Gefangenen und dem Wächter entfernt waren.