Wieder ein Geräusch. War das ein Schritt am Eingang? Oder nur meine Einbildung? Wie lange dauerte diese schweigende Pattsituation schon? Ich hatte keine Ahnung, wie viele Sekunden oder Minuten bereits verstrichen waren.
Mach dich bereit. Melanie wusste, dass das Zögern bald ein Ende haben würde. Sie wollte, dass ich den Stein fester packte.
Aber ich würde erst versuchen zu fliehen. Ich wäre keine gute Kämpferin, selbst wenn ich mich dazu durchringen könnte. Kyle war vermutlich doppelt so schwer wie ich und hatte viel längere Arme.
Ich hob die Hand mit den Kieselsteinen und zielte damit auf den Durchgang zur Latrine. Vielleicht konnte ich ihn dazu bringen zu glauben, dass ich mich verstecken und auf Rettung hoffen wollte. Ich warf die Handvoll kleiner Steine und als sie gegen die Felswand knallten, zuckte ich von dem Geräusch, das sie machten, zusammen.
Wieder das Atmen neben dem Eingang, das Geräusch leiser Schritte, die in die Richtung liefen, in die ich ihn hatte locken wollen. Ich schob mich so leise an der Wand entlang, wie ich konnte.
Was ist, wenn sie zu zweit sind? Ich weiß es nicht.
Ich hatte den Ausgang beinahe erreicht. Wenn ich erst im Gang war, glaubte ich ihn abhängen zu können. Ich war leichter und schneller ...
Ich hörte einen Schritt, ganz deutlich diesmal, im Wasserlauf am Ende des Raums. Ich schlich schneller.
Ein enormes Platschen durchbrach die gespannte Stille. Wasser spritzte mir auf die Haut und ließ mich nach Luft schnappen. Ein Tropfenregen prasselte laut gegen die Wand.
Er kommt durch das Becken! Lauf.
Ich zögerte eine Sekunde zu lang. Kräftige Finger griffen nach meiner Wade, meinem Knöchel. Ich zerrte in die andere Richtung und hechtete nach vorn. Ich stolperte und entschlüpfte seinem Griff. Er packte meinen Turnschuh. Ich schüttelte ihn ab und er blieb in Kyles Hand zurück.
Ich lag auf dem Boden, aber Kyle ebenso; das gab mir Zeit, von ihm wegzukriechen, wobei ich mir die Knie an dem rauen Boden aufschürfte.
Kyle grunzte und seine Hand packte meine nackte Ferse. Es gab nichts, woran er sich festhalten konnte; meine Ferse rutschte ihm aus der Hand. Ich warf mich nach vorne und kam auf die Füße, den Kopf immer noch dicht am Boden, ständig in Gefahr, wieder hinzufallen. Durch reine Willensanstrengung hielt ich das Gleichgewicht.
Es gab keine zweite Person. Niemanden, der mich am Ausgang zum Vorraum abfing. Ich rannte los, Hoffnung und Adrenalin schossen durch meine Adern. In vollem Lauf spurtete ich in den Raum mit den Flüssen; mein einziger Gedanke war, den Gang zu erreichen. Ich konnte Kyles schweren Atem hinter mir hören, dicht, aber nicht dicht genug. Mit jedem Schritt stieß ich mich stärker vom Boden ab und ließ ihn weiter hinter mir.
Plötzlich schoss ein Schmerz durch mein Bein und ließ es einknicken.
Über das Rauschen des Flusses hinweg hörte ich zwei schwere Steine zu Boden fallen und wegrollen - den, den ich in der Hand gehalten hatte, und den, den Kyle geworfen hatte, um mich zum Krüppel zu machen. Mein Bein drehte sich unter mir weg und ließ mich zu Boden sinken, und im selben Augenblick war er über mir.
Sein Gewicht schleuderte meinen Kopf mit einer Wucht auf den Steinboden, dass mir die Ohren dröhnten, und drückte mich flach auf die Erde. Ich hatte keine Chance, wieder hochzukommen.
Schrei!
Ich stieß einen sirenenartigen Ton aus, der uns alle überraschte. Mein wortloses Kreischen war mehr, als ich erhofft hatte - sicher würde es jemand hören.
Bitte lass es Jeb sein. Bitte lass ihn das Gewehr dabeihaben.
»Argh!«, protestierte Kyle. Seine Hand war so groß, dass sie fast mein ganzes Gesicht bedeckte. Er presste mir seine Handfläche auf den Mund und erstickte meinen Schrei.
Dann rollte er zur Seite und die Bewegung kam so überraschend für mich, dass ich keine Zeit hatte zu versuchen, einen Vorteil daraus zu ziehen. Im Rollen zerrte er mich über und unter und wieder über seinen Körper; ich war benommen und verwirrt und mein Kopf drehte sich, aber ich verstand, sobald mein Gesicht das Wasser berührte.
Er hatte mich im Nacken gepackt und drückte mein Gesicht in den flachen Strom kühleren Wassers, das sich seinen Weg in das Badebecken bahnte. Es war zu spät, um die Luft anzuhalten, ich hatte bereits einen Mundvoll Wasser eingeatmet.
Mein Körper geriet in Panik, als das Wasser in meine Lungen lief, und ich setzte mich stärker zur Wehr, als er erwartet hatte.
Meine Gliedmaßen schlugen wie wild in verschiedene Richtungen und sein Griff in meinem Nacken löste sich. Er versuchte, mich fester zu packen, aber instinktiv bewegte ich mich eher zu ihm hin als von ihm weg, wie er es erwartet hatte. Ich schob mich nur einen halben Fuß näher zu ihm, aber so bekam ich mein Kinn und genug von meinem Mund aus dem Strom, um einen Teil des Wassers wieder ausspucken und einmal tief Luft holen zu können.
Er versuchte mich zurück in den Fluss zu stoßen, aber ich zappelte und wand mich so sehr unter ihm, dass sein eigenes Gewicht gegen ihn arbeitete. Ich hustete immer noch krampfartig und unkontrolliert wegen des Wassers in meiner Lunge.
»Jetzt reicht's!«, knurrte Kyle.
Er schob sich von mir herunter und ich versuchte von ihm wegzukommen.
»O nein, das wirst du nicht!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
Mir war klar, dass es vorbei war.
Mit meinem verletzten Bein stimmte irgendetwas nicht. Es fühlte sich taub an und tat nicht, was ich wollte. Ich konnte mich nur mit meinen Armen und dem gesunden Bein über den Boden schieben, aber selbst das gelang mir nicht besonders gut, weil ich so sehr hustete. Zu sehr, um noch einmal zu schreien.
Kyle packte mich am Handgelenk und riss mich vom Boden hoch. Das Gewicht meines Körpers ließ mein Bein einknicken und ich fiel auf ihn.
Er umfasste meine beiden Handgelenke mit einer Hand und schlang den anderen Arm um meine Taille. Dann hob er mich vom Boden hoch und stützte mich auf seiner Hüfte ab wie einen unförmigen Mehlsack. Ich wand mich und mein gesundes Bein trat ins Leere.
»Bringen wir es hinter uns.«
Mit einem Satz sprang er über den schmaleren Wasserlauf und trug mich zum nächstgelegenen Wasserloch. Der Dampf aus der heißen Quelle strich mir über das Gesicht.
Er würde mich in das dunkle, heiße Loch werfen, wo mich das kochende Wasser gleichzeitig in die Tiefe ziehen und verbrühen würde.
»Nein, nein!«, rief ich, aber meine Stimme war zu heiser und leise, um weit zu tragen.
Ich schlug wie wild um mich. Mein Knie stieß gegen eine der dünnen Felssäulen und ich klemmte meinen Fuß dahinter und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. Mit einem ungeduldigen Grunzen riss er mich los.
Immerhin lockerte das seinen Griff so weit, dass ich noch eine Bewegung machen konnte. Es hatte schon einmal funktioniert, deshalb probierte ich es noch mal. Anstatt zu versuchen, mich zu befreien, presste ich mich an ihn und schlang meine Beine um seine Taille, wobei ich den gesunden Knöchel über den verletzten legte und versuchte, den Schmerz zu ignorieren, damit ich festen Halt hatte.
»Lass mich los, du ...« Er versuchte mich abzuschütteln und ich konnte eins meiner Handgelenke losreißen. Ich schlang den Arm um seinen Hals und packte sein dichtes Haar. Wenn ich in dem schwarzen Fluss landete, dann auch er.