»Alles in Ordnung?«
»Ich glaube schon. Wir müssen Doc holen, aber ich weiß nicht, ob ich laufen kann. Ich ... ich habe mir das Bein angestoßen, als ich hingefallen bin.«
Ein Knurren drang aus seiner Kehle. »Welches Bein? Zeig mal her.«
Ich versuchte mein verletztes Bein auszustrecken - es war das rechte - und stöhnte erneut auf. Seine Hände begannen an meinem Knöchel, tasteten die Knochen, die Gelenke ab. Er drehte vorsichtig mein Fußgelenk.
»Weiter oben. Hier.« Ich legte seine Hand hinten auf meinen Oberschenkel, direkt über dem Knie. Ich ächzte wieder, als er auf die schmerzende Stelle drückte. »Ich glaube nicht, dass es gebrochen ist oder so. Es tut nur ziemlich weh.«
»Zumindest eine heftige Muskelprellung«, murmelte er. »Und wie ist das passiert?«
»Ich muss ... auf einem Stein aufgekommen sein, als ich gestürzt bin.«
Er seufzte. »Okay, dann auf zu Doc.« »Kyle braucht ihn dringender als ich.«
»Ich muss Doc sowieso holen gehen - oder andere Hilfe. Ich kann Kyle nicht so weit tragen, aber dich schon. Ups - warte noch mal kurz.«
Er drehte sich unvermittelt um und verschwand wieder im Raum mit dem Fluss. Ich beschloss, dass ich nicht mit ihm streiten würde. Ich wollte Walter sehen, bevor ... Doc hatte mir versprochen, auf mich zu warten. Würde die Wirkung der ersten Dosis Schmerzmittel bald nachlassen? Mein Kopf drehte sich. Es gab so viel, worüber ich mir Gedanken machen musste, und ich war so müde. Das Adrenalin war verschwunden und hatte mich ausgelaugt zurückgelassen.
Ian kam mit dem Gewehr zurück. Ich runzelte die Stirn, weil es mich daran erinnerte, wie ich es mir vorher herbeigewünscht hatte. Das gefiel mir nicht. »Lass uns gehen.«
Ohne nachzudenken gab er mir das Gewehr. Ich ließ es in meinen offenen Handflächen liegen, schaffte es aber nicht, meine Hände darum zu schließen. Dann beschloss ich, dass es eine angemessene Strafe war, das Ding tragen zu müssen.
Ian schmunzelte. »Wie man vor dir Angst haben kann ...«, murmelte er vor sich hin.
Er hob mich leichthändig hoch und war schon losgegangen, bevor ich eine bequeme Position gefunden hatte. Ich versuchte zu vermeiden, dass auf den empfindlichsten Stellen - meinem Hinterkopf, der Rückseite meines Beins - zu viel Gewicht ruhte.
»Woher sind deine Kleider so nass?«, fragte er. Wir gingen gerade unter einem der faustgroßen Oberlichter hindurch und ich konnte den Anflug eines Lächelns auf seinen blassen Lippen sehen.
»Ich weiß es nicht«, murmelte ich. »Vom Dampf?«
Wir tauchten wieder in die Dunkelheit ein. »Dir fehlt ein Schuh.«
»Oh.«
Wir kamen wieder unter einem Lichtstrahl hindurch und seine Augen blitzten saphirblau auf. Sie waren jetzt ernst auf mein Gesicht gerichtet.
»Ich bin ... sehr froh, dass dir nichts passiert ist, Wanda. Nicht mehr passiert ist, besser gesagt.«
Ich antwortete nicht. Ich hatte Angst, etwas zu sagen, das er gegen Kyle verwenden konnte.
Bevor wir die große Höhle erreichten, trafen wir auf Jeb. Es war hell genug, dass ich das neugierige Blitzen in seinen Augen erkennen konnte, als er mich mit blutendem Gesicht und dem Gewehr, das ich vorsichtig in den offenen Händen trug, in Ians Armen sah.
»Du hattest also Recht«, vermutete Jeb. Trotz aller Neugier war seine Stimme hart wie Stahl. Er spannte unter seinem Bart den Kiefer. »Ich habe keinen Schuss gehört. Was ist mit Kyle?«
»Er ist bewusstlos«, sagte ich schnell. »Du musst alle warnen - ein Teil des Fußbodens in der Höhle mit dem Fluss ist eingebrochen. Ich weiß nicht, ob der Rest hält. Kyle ist heftig mit dem Kopf aufgeschlagen, als er versucht hat, zu entkommen. Er braucht Doc.«
Jeb hob eine Augenbraue so weit, dass sie beinahe das ausgebleichte Tuch an seinem Haaransatz berührte. »Das ist ihre Version«, sagte Ian und gab sich keine Mühe, seine Zweifel zu verbergen. »Und sie hat offenbar vor, daran festzuhalten.«
Jeb lachte. »Komm, ich nehme dir das ab«, sagte er zu mir. Ich überließ ihm bereitwillig das Gewehr. Er lachte erneut über meinen Gesichtsausdruck.
»Ich hole Andy und Brandt, damit sie mir mit Kyle helfen. Wir kommen dann nach.«
»Behalt ihn im Auge, wenn er aufwacht«, sagte Ian mit fester Stimme.
»Mach ich.«
Jeb schlenderte davon, um Hilfe zu holen. Ian eilte mit mir auf den Krankenflügel zu.
»Kyle ist vielleicht schwer verletzt ... Jeb sollte sich beeilen.«
»Kyles Kopf ist härter als alle Steine hier.«
Der lange Tunnel kam mir noch länger vor als sonst. Würde Kyle trotz meiner Bemühungen sterben? War er wieder bei Bewusstsein und suchte nach mir? Was war mit Walter? Schlief er ... oder war er schon tot? Hatte die Sucherin die Jagd aufgegeben oder würde sie jetzt, wo es hell war, wiederkommen?
Ist Jared noch bei Doc? Mel fügte meinen Fragen noch weitere hinzu. Wird er wütend werden, wenn er dich sieht? Wird er mich erkennen?
Als wir die sonnendurchflutete südliche Höhle erreichten, sah es so aus, als hätten Jared und Doc sich nicht von der Stelle gerührt. Sie lehnten nebeneinander an Docs behelfsmäßigem Schreibtisch. Es war still, als wir uns näherten. Sie sprachen nicht, sondern sahen Walter einfach beim Schlafen zu.
Als Ian mit mir ins Licht trat und mich auf das Feldbett neben Walter legte, sprangen sie mit weit aufgerissenen Augen auf. Ian streckte vorsichtig mein rechtes Bein aus.
Walter schnarchte. Das Geräusch löste einen Teil meiner Anspannung.
»Was ist denn jetzt schon wieder passiert?«, fragte Doc ärgerlich. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da beugte er sich schon über mich und wischte mir das Blut von der Wange.
Jareds Gesichtsausdruck war vor Überraschung erstarrt. Er gab Acht, dass seine Miene nicht irgendetwas anderes verriet.
»Kyle«, antwortete Ian im selben Moment, als ich sagte: »Der Fußboden ...«
Doc sah verwirrt zwischen uns hin und her.
Ian seufzte und verdrehte die Augen. Geistesabwesend legte er mir eine Hand leicht auf die Stirn. »Der Fußboden neben dem ersten Loch über dem Fluss ist weggebrochen. Kyle ist hintenübergefallen und mit dem Kopf gegen einen Stein gedonnert. Wanda hat sein wertloses Leben gerettet. Sie sagt, sie sei selber auch gestürzt, als der Boden nachgab.« Ian warf Doc einen vielsagenden Blick zu. »Irgendetwas«, sagte er sarkastisch, »hat ihr einen ganz schön heftigen Schlag auf den Hinterkopf versetzt.«
Er begann weiter aufzuzählen. »Ihre Nase blutet, ist aber, glaube ich, nicht gebrochen. Und dieser Muskel hier ist verletzt.« Er berührte meinen schmerzenden Schenkel. »Die Knie sind ganz schön aufgeschürft und ihr Gesicht auch schon wieder, aber das kann auch ich gewesen sein, als ich Kyle aus dem Loch gezogen habe. Ich hätte mir nicht die Mühe machen sollen.« Letzteres murmelte Ian nur.
»Noch etwas?«, fragte Doc. In diesem Augenblick berührten seine Finger, die meine Seite untersuchten, die Stelle, wo Kyle mich geschlagen hatte. Ich keuchte. Doc schob mein Hemd hoch und ich hörte sowohl Ian als auch Jared bei dem Anblick die Luft einziehen.
»Lass mich raten«, sagte Ian mit eisiger Stimme. »Du bist auf einen Felsen gestürzt.«
»Richtig«, bestätigte ich atemlos. Doc tastete immer noch meine Seite ab und ich versuchte ein Wimmern zu unterdrücken.
»Vielleicht eine gebrochene Rippe, ich bin mir nicht sicher«, murmelte Doc. »Ich wünschte, ich könnte dir was gegen die Schmerzen geben ...«
»Keine Sorge, Doc«, keuchte ich. »Mit mir ist alles in Ordnung.
Wie geht es Walter? Ist er zwischendurch noch mal
aufgewacht?«
»Nein, es wird eine Weile dauern, bis die Wirkung nachlässt«, sagte Doc. Er nahm meine Hand und begann mein Handgelenk und meinen Ellbogen zu beugen.