Ich konnte nicht in das Loch sehen. Es war dunkel unter dem Felsvorsprung und das Grab schien sehr tief zu sein.
Ian begann vor mir zu sprechen.
»Walter verkörperte das Beste der menschlichen Natur«, sagte er und streute seinen Sand in das Loch. Es dauerte lange, bis ich ihn auf den Boden rieseln hörte.
Ian sah mich an.
Es war absolut still in der sternklaren Nacht. Sogar der Wind hatte sich gelegt. Ich flüsterte, aber ich wusste, dass meine Stimme für jeden zu hören war.
»Dein Herz war frei von Hass«, flüsterte ich. »Dass es dich gab, ist der Beweis, dass wir uns geirrt haben. Wir hatten nicht das Recht, dir deine Welt wegzunehmen, Walter. Ich hoffe, deine Märchen sind wahr. Ich hoffe, du findest deine Gladdie.«
Ich ließ die Steinchen durch meine Finger rieseln und wartete, bis ich sie mit einem leisen Prasseln auf Walters Körper, der in dem tiefen, dunklen Grab verborgen war, aufkommen hörte.
Andy legte los, sobald Ian den ersten Schritt zurück gemacht hatte, und schaufelte blasse, staubige Erde von einem Haufen, der etwas weiter hinten in der Grotte lag, in das Grab. Die Ladung der Schaufel landete viel zu laut in der Grube. Das Geräusch ließ mich zusammenfahren.
Aaron ging ebenfalls mit einer Schaufel an uns vorbei. Ian drehte sich langsam um und trug mich fort, um ihnen Platz zu machen. Die dumpfen Schläge der auftreffenden Erde hallten hinter uns her. Leises Stimmengewirr erhob sich. Ich hörte Schritte, als die Leute umhergingen und sich in Grüppchen zusammenfanden, um sich über die Beerdigung zu unterhalten.
Ich sah Ian zum ersten Mal richtig an, als er zu der dunklen Matte zurückging, die auf der bloßen Erde lag - abseits, nicht dazugehörig. Sein Gesicht war staubig, seine Miene ernst. Er hatte schon mal so ausgesehen, aber ich konnte mich nicht erinnern, wann, und als Ian mich auf die Matte legte, war ich wieder abgelenkt.
Was sollte ich hier draußen? Schlafen? Doc war direkt hinter uns; er und Ian knieten sich beide neben mich in den Staub.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Doc, der bereits an meiner Seite herumdrückte.
Ich wollte mich aufsetzen, aber Ian hielt mich an der Schulter fest, als ich es versuchte.
»Mir geht es gut. Vielleicht kann ich laufen ...«
»Kein Grund, es zu übertreiben. Gib deinem Bein ein paar Tage, okay?« Doc zog geistesabwesend mein linkes Augenlid hoch und leuchtete mit einem winzigen Lichtstrahl hinein. Mein rechtes Auge sah den hellen Widerschein, der über sein Gesicht tanzte. Er blinzelte, um sich vor dem Licht zu schützen, und wich ein paar Zentimeter zurück. Ians Hand auf meiner Schulter rührte sich nicht. Das überraschte mich.
»Tja, das hilft nicht gerade bei der Diagnose. Wie geht es deinem Kopf?«, fragte Doc.
»Mir ist etwas schwindelig. Ich glaube allerdings, dass das eher an den Medikamenten liegt, die du mir gegeben hast, als an der Verletzung. Sie bekommen mir nicht - ich glaube, ich ertrage lieber die Schmerzen.«
Doc verzog das Gesicht. Ian ebenfalls. »Was?«, fragte ich.
»Ich muss dich noch mal betäuben, Wanda. Tut mir leid.« »Aber ... warum denn?«, flüsterte ich. »Ich bin doch gar nicht so schwer verletzt. Ich will nicht...«
»Wir müssen dich wieder reinbringen«, schnitt Ian mir mit leiser Stimme das Wort ab, als wollte er nicht, dass die anderen etwas davon mitbekamen. Ich konnte die Stimmen hinter uns hören, die leise von den Felsen widerhallten. »Wir haben ihnen versprochen ... dass du dabei nicht bei Bewusstsein bist.«
»Verbindet mir doch einfach wieder die Augen.«
Doc zog die kleine Spritze aus seiner Tasche. Sie war nur noch zu einem Viertel gefüllt. Ich zuckte davor zurück, auf Ian zu. Er hielt mich an der Schulter fest.
»Du kennst die Höhlen zu gut«, murmelte Doc. »Sie wollen nicht, dass du die Möglichkeit hast zu kombinieren ...«
»Aber wo sollte ich denn hin?«, flüsterte ich verzweifelt. »Selbst wenn ich den Weg nach draußen kennen würde? Wieso sollte ich von hier weggehen?«
»Wenn es sie beruhigt...«, sagte Ian.
Doc griff nach meinem Handgelenk und ich wehrte mich nicht. Ich weg, als die Nadel in meine Haut stach, sah Ian an. Seine Augen waren in der Dunkelheit mitternachtsblau. Sie verengten sich, als er sah, wie verraten ich mich fühlte.
»Es tut mir leid«, murmelte er. Es war das Letzte, was ich hörte.
Versucht
Ich stöhnte. Mein Kopf schwirrte und fühlte sich so an, als gehörte er nicht zu mir. Mir drehte sich der Magen um.
»Endlich«, murmelte jemand erleichtert. Ian. Natürlich. »Hunger?«
Ich dachte darüber nach und machte dann ein unfreiwilliges würgendes Geräusch.
»Oh. Vergiss es. Entschuldigung noch mal. Wir mussten es tun. Die Leute waren total ... paranoid, als wir dich hinausgebracht haben.« »Schon gut.« Ich seufzte. »Willst du Wasser?« »Nein.«
Ich öffnete die Augen und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Ich konnte durch die Spalten über mir zwei Sterne sehen. Es war immer noch Nacht. Oder schon wieder, ich wusste es nicht.
»Wo bin ich?«, fragte ich. Die Form der Spalten kam mir nicht bekannt vor. Ich hätte schwören können, bisher noch nie an diese Decke gestarrt zu haben.
»In deinem Zimmer«, sagte Ian.
Ich suchte in der Finsternis nach seinem Gesicht, konnte aber nur die dunkle Silhouette seines Kopfes erkennen. Mit den Fingern betastete ich die Unterlage, auf der ich lag; es war eine richtige Matratze. Unter meinem Kopf lag ein Kissen. Meine Hand berührte seine und er umfasste meine Finger, bevor ich sie wegziehen konnte.
»Wem gehört das Zimmer wirklich?« »Dir.«
»Ian ...«
»Es war bisher unseres - Kyles und meins. Kyle wird im Krankenflügel ... festgehalten, bis über ihn entschieden wird. Ich kann bei Wes einziehen.«
»Ich nehme dir nicht dein Zimmer weg. Und was meinst du damit, >bis über ihn entschieden wird<?«
»Ich habe dir doch gesagt, es würde einen Prozess geben.« »Wann?«
»Warum willst du das wissen?«
»Wenn ihr das wirklich tut, will ich dabei sein. Um zu erklären, was passiert ist.«
»Um zu lügen.«
»Wann?«, fragte ich erneut.
»Im Morgengrauen. Ich werde dich nicht hinbringen.«
»Dann gehe ich allein. Ich bin sicher, dass ich laufen kann, sobald mein Kopf aufhört, sich zu drehen.«
»Das würdest du wirklich tun, stimmt's?«
»Ja. Es wäre ungerecht, mich nicht zu Wort kommen zu lassen.«
Ian seufzte. Er ließ meine Hand los und kam langsam auf die Füße. Ich konnte seine Gelenke knacken hören, als er sich aufrichtete. Wie lange hatte er in der Dunkelheit gesessen und darauf gewartet, dass ich aufwachte? »Ich komme gleich wieder. Dir mag es ja vielleicht nicht so gehen, aber ich bin kurz vorm Verhungern.«
»Es war eine lange Nacht für dich.« »Ja.«
»Wenn es hell wird, werde ich nicht hier sitzen und auf dich warten.«
Er stieß ein freudloses Lachen aus. »Das glaube ich dir sofort.
Also werde ich früher zurück sein und dir helfen da hinzukommen, wo du hinwillst.«
Er kippte eine der Türen vor dem Eingang zu seiner Höhle nach vorn, trat hinaus und ließ sie wieder zurückfallen. Ich runzelte die Stirn. Das konnte schwierig werden auf einem Bein. Ich hoffte, Ian kam wirklich rechtzeitig zurück.
Während ich auf ihn wartete, starrte ich zu den beiden Sternen hinauf und ließ meinen Kopf langsam wieder zur Ruhe kommen. Die menschlichen Medikamente waren wirklich nichts für mich. Mein Körper tat weh, aber das Schlingern in meinem Kopf war schlimmer.
Die Zeit verstrich langsam, aber ich schlief nicht ein. Ich hatte fast die ganzen letzten vierundzwanzig Stunden verschlafen. Wahrscheinlich hatte ich doch Hunger. Ich würde warten müssen, bis mein Magen sich beruhigt hatte, bevor ich sicher sein konnte.
Ian kam wie versprochen vor Anbruch der Morgendämmerung zurück.
»Geht es dir besser?«, fragte er, als er die Tür umrundete.