Aaron setzte sich neben Andy und es herrschte ein kurzer Moment des Schweigens.
»Also dann«, sagte Jeb mit lauter Stimme, damit alle ihn hören konnten. »Das hier wird folgendermaßen ablaufen: Es gibt eine echte Mehrheitsentscheidung. Wie üblich fasse ich einen abweichenden Entschluss, wenn ich ein Problem mit der Mehrheit habe, denn das hier ...«
»... ist mein Haus«, riefen mehrere Stimmen dazwischen. Irgendjemand kicherte, aber hörte sofort wieder auf. Das, was hier stattfand, war nicht lustig. Ein Mensch stand vor Gericht, weil er versucht hatte, eine Außerirdische umzubringen. Es musste ein furchtbarer Tag für sie alle sein.
»Wer hat etwas gegen Kyle vorzubringen?«, fragte Jeb.
Ian neben mir machte Anstalten aufzustehen. »Nein!«, flüsterte ich und zog ihn am Ellbogen.
Er schüttelte mich ab und richtete sich auf.
»Die Sache ist ganz einfach«, sagte Ian. Ich wollte aufspringen und ihm den Mund zuhalten, aber ich bezweifelte, dass ich ohne Hilfe auf die Beine käme. »Mein Bruder ist gewarnt worden. Er war sich über Jebs Regel diesbezüglich vollkommen im Klaren. Wanda gehört zu unserer Gemeinschaft - für sie gelten dieselben Regeln und Schutzvorschriften wie für uns alle. Jeb hat Kyle klipp und klar gesagt, dass er abhauen soll, wenn er mit ihr hier nicht leben kann. Kyle hat beschlossen zu bleiben. Er kannte und er kennt die Strafe, die an diesem Ort auf Mord steht.«
»Es lebt noch«, knurrte Kyle.
»Weshalb ich auch nicht deinen Tod fordere«, giftete Ian zurück. »Aber du kannst nicht länger hier leben. Nicht, wenn du im Herzen ein Mörder bist.«
Ian sah seinen Bruder einen Moment an, dann setzte er sich wieder neben mich auf den Boden.
»Aber er könnte geschnappt werden und wir würden es nicht erfahren«, protestierte Brandt und stand auf. »Er würde sie hierherführen und niemand würde uns warnen ...«
Gemurmel erhob sich im Raum.
Kyle funkelte Brandt an. »Die kriegen mich niemals lebend.«
»Dann ist es also doch ein Todesurteil«, murmelte jemand.
Gleichzeitig sagte Andy: »Das kannst du nicht wissen.«
»Einer nach dem anderen«, mahnte Jeb.
»Ich habe auch vorher schon draußen überlebt«, sagte Kyle wütend.
Eine andere Stimme ertönte aus der Dunkelheit. »Es ist aber ein Risiko.«
Ich konnte die Besitzer der Stimmen nicht erkennen – ich hörte nur ein flüsterndes Zischen.
Und wieder eine. »Was hat Kyle denn verbrochen? Nichts!« Jeb machte mit finsterem Gesicht einen Schritt auf die Stimme zu. »Meine Regeln.«
»Sie ist keine von uns«, protestierte jemand anders. Ian begann sich erneut aufzurichten.
»Hey!«, explodierte Jared. Seine Stimme war so laut, dass alle zusammenfuhren. »Nicht Wanda steht hier vor Gericht! Hat jemand einen konkreten Vorwurf gegen sie - gegen Wanda selbst? Dann beantragt eine andere Ratssitzung. Aber wir alle wissen, dass sie niemandem hier etwas zuleide getan hat. Im Gegenteil, sie hat ihm das Leben gerettet.« Er deutete mit dem Finger auf Kyles Rücken. Kyles Schultern sackten zusammen, als hätte er den Stich gespürt. »Nur Sekunden nachdem er versucht hatte, sie in den Fluss zu werfen, hat sie ihr Leben riskiert, um ihn vor demselben furchtbaren Tod zu bewahren. Sie wusste, dass sie hier sicherer wäre, wenn sie ihn fallen ließe. Sie hat ihn trotzdem gerettet. Hätte irgendjemand von euch dasselbe getan - euren Feind gerettet? Er hat versucht sie umzubringen - sagt sie auch nur gegen ihn aus?«
Ich spürte, wie alle Blicke in dem dunklen Raum auf mir ruhten, als Jared jetzt mit seiner offenen Hand auf mich deutete.
»Wirst du gegen ihn aussagen, Wanda?«
Ich starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, fassungslos, dass er sich für mich aussprach, dass er mich ansprach, dass er meinen Namen sagte. Melanie war ebenfalls geschockt, zwiegespalten. Sie war überglücklich, dass er uns freundlich ansah, mit einer Sanftheit in den Augen, die so lange verschwunden gewesen war. Aber es war mein Name, den er nannte ...
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich meine Sprache wiedergefunden hatte.
»Das ist alles ein Missverständnis«, flüsterte ich. »Wir sind beide gestürzt, als der Boden eingebrochen ist. Sonst ist nichts passiert.« Ich hoffte, dass das Flüstern es schwerer machen würde, die Lüge aus meiner Stimme herauszuhören, aber sobald ich geendet hatte, gluckste Ian. Ich stieß ihm meinen Ellbogen in die Seite, aber das brachte ihn nicht zum Verstummen.
Jared lächelte mich an. »Seht ihr? Sie versucht sogar zu seiner Verteidigung zu lügen.«
»Versucht ist das richtige Wort«, fügte Ian hinzu.
»Wer sagt, dass es lügt? Wer kann das beweisen?«, fragte Maggie schroff und trat nach vorn auf den leeren Platz neben Kyle. »Wer kann beweisen, dass es nicht die Wahrheit ist, die aus diesem Mund so falsch klingt?«
»Mag ...«, begann Jeb.
»Sei still, Jebediah ... jetzt rede ich. Es gibt eigentlich keinen Grund, warum wir hier sind. Kein Mensch ist angegriffen worden. Der Eindringling hat sich nicht beschwert. Das hier ist Zeitverschwendung.«
»Ich bin ganz ihrer Meinung«, fügte Sharon laut und deutlich hinzu.
Doc warf ihr einen schmerzlichen Blick zu.
Trudy sprang auf. »Wir können doch keinen Mörder beherbergen - und einfach abwarten, bis er Erfolg hat!«
»Mord ist subjektiv«, zischte Maggie. »Für mich ist es nur Mord, wenn ein menschliches Wesen umgebracht wird.«
Ich spürte, wie Ian mir den Arm um die Schultern legte. Ich merkte nicht, dass ich zitterte, bis sein Körper sich an meinen lehnte.
»Was ein menschliches Wesen ist, ist ebenfalls subjektiv, Magnolia«, sagte Jared und funkelte sie an. »Ich dachte, der Begriff umfasse ein wenig Mitleid, ein kleines bisschen Gnade.«
»Lasst uns abstimmen«, sagte Sharon, bevor ihre Mutter ihm antworten konnte. »Hebt die Hand, wenn ihr findet, dass Kyle hierbleiben darf, und zwar ohne Strafe für das ...
Missverständnis.« Sie warf zwar nicht mir, aber Ian einen Blick zu, als sie denselben Begriff benutzte wie ich vorher.
Hände gingen in die Höhe. Ich beobachtete, wie Jared eine missmutige Miene aufsetzte. Auch ich versuchte, meine Hand zu heben, aber Ian hielt meine Arme fest und schnaubte irritiert durch die Nase. Ich hielt meine Handfläche so hoch, wie ich konnte, aber am Ende war meine Stimme gar nicht nötig.
Jeb zählte laut.
»Zehn ... fünfzehn ... zwanzig ... dreiundzwanzig. Okay, das ist eine deutliche Mehrheit.«
Ich blickte nicht auf, um nachzusehen, wer wie abgestimmt hatte, aber ich sah, dass in meiner kleinen Ecke alle Arme fest verschränkt und alle Blicke erwartungsvoll auf Jeb gerichtet waren.
Jamie löste sich von Jebs Seite und quetschte sich zwischen Trudy und mich. Er legte seinen Arm um mich, unter Ians.
»Vielleicht hatten deine Seelen Recht, was uns betrifft«, sagte er laut genug, dass die meisten seine hohe, harte Stimme hören konnten. »Die große Mehrheit der Menschen ist nicht besser als ...«
»Psst!«, zischte ich ihn an.
»Okay«, sagte Jeb. Alle schwiegen. Jeb sah auf Kyle hinunter, dann sah er mich an und dann Jared. »Okay, ich glaube, ich werde mich in dieser Sache der Mehrheit anschließen.«
»Jeb ...«, sagten Jared und Ian gleichzeitig.
»Mein Haus, meine Regeln«, erinnerte Jeb sie. »Vergesst das nie. Und deshalb hör mir jetzt zu, Kyle. Und ich denke, du besser auch, Magnolia. Jeder, der noch einmal versucht, Wanda etwas zu tun, bekommt keinen Prozess, sondern ein Begräbnis.« Er tätschelte den Kolben seines Gewehrs zur Bekräftigung.
Ich zuckte zusammen.
Magnolia starrte ihren Bruder hasserfüllt an.
Kyle nickte, als akzeptiere er die Bedingungen. Jeb sah sich in der verstreuten Menge um und fixierte jeden Einzelnen außer der kleinen Gruppe neben mir.
»Die Sitzung ist hiermit beendet«, verkündete er dann. »Wer hat Lust auf ein Spiel?«
Geglaubt