»Hörst du ihr jetzt zu?« Jared war aufgestanden, betrachtete aber immer noch mein Gesicht.
Seine Frage lenkte mich ab, bevor ich Mel fragen konnte, was sie damit meinte.
»Ja.«
»Was sagt sie?«
»Wir registrieren, was die anderen von deinem ...
Sinneswandel halten.« Mit einem Kopfnicken wies ich ihn auf Melanies Tante und Cousine hin. Sie kehrten mir beide gleichzeitig den Rücken zu.
»Harte Nüsse«, gab er zu.
»Na gut«, brüllte Kyle und drehte sich zu dem Ball um, der an der hellsten Stelle lag. »Dann gewinnen wir eben ohne dich.«
»Ich komm ja schon!« Jared warf mir - uns – einen sehnsüchtigen Blick zu und lief aufs Spielfeld.
Ich war nicht gerade toll im Torezählen. Es war zu dunkel, um den Ball von dort, wo ich saß, sehen zu können. Es war sogar zu dunkel, um die Spieler richtig zu sehen, wenn sie nicht direkt unter den Lampen standen. Ich begann mich beim Zählen nach Jamies Reaktion zu richten. Seinem Siegesgebrüll, wenn seine Mannschaft ein Tor schoss, und seinem Stöhnen, wenn die andere traf. Er stöhnte öfter, als er brüllte.
Alle spielten mit. Maggie stand für Andys Mannschaft im Tor und Jeb für Lilys. Sie waren beide erstaunlich gut. Ich konnte sehen, wie sich ihre Silhouetten im Schein der Lampen, die als Torpfosten dienten, so geschmeidig bewegten, als wären sie Jahrzehnte jünger. Jeb schreckte nicht davor zurück, sich auf den Boden zu werfen, um den Ball zu halten, aber Maggie hatte mehr Erfolg, ohne zu solchen Extremen greifen zu müssen. Sie zog den unsichtbaren Ball wie ein Magnet an. Jedes Mal, wenn Ian oder Wes einen Schuss abgaben, landete er - zack! - in ihren Händen.
Trudy und Paige hörten nach etwa einer halben Stunde auf und kamen auf dem Weg nach draußen aufgeregt plaudernd an mir vorbei. Ich konnte kaum glauben, dass wir den Morgen mit einem Prozess begonnen hatten, aber ich war erleichtert darüber, dass sich die Dinge so drastisch verändert hatten.
Die beiden Frauen blieben nicht lange weg. Sie kamen mit Kartons beladen zurück. Müsliriegel - die mit Fruchtfüllung. Das Spiel wurde beendet: Jeb rief zur Halbzeitpause und alle eilten zum Frühstücken herbei.
Die Riegel wurden an der Mittellinie verteilt. Alle stürzten sich wie wild darauf.
»Hier, Wanda«, sagte Jamie und zwängte sich zwischen den anderen hindurch aus der Menschenmenge. Er hatte die Hände voller Müsliriegel und Wasserflaschen unter die Arme geklemmt.
»Danke. Macht es Spaß?«
»Und wie! Schade, dass du nicht mitspielen kannst.« »Ein andermal«, sagte ich.
»Hier, für dich ...« Auch Ian hatte die Hände voller Müsliriegel.
»Ätsch, ich war schneller«, erklärte Jamie.
»Oh«, sagte Jared, der an Jamies anderer Seite auftauchte. Er hatte ebenfalls zu viele Riegel für eine Person in der Hand.
Ian und Jared wechselten einen langen Blick.
»Wo ist das ganze Essen geblieben?«, wollte Kyle wissen. Er stand und über den leeren Karton gebeugt und sah sich auf der Suche nach dem Schuldigen im Raum um.
»Fang«, sagte Jared und feuerte die Müsliriegel einen nach dem anderen wie Messer auf ihn ab.
Kyle fing sie mühelos auf und kam dann herüber, um zu sehen, ob Jared ihm noch mehr vorenthielt.
»Hier«, sagte Ian und streckte seinem Bruder die Hälfte seiner Ladung entgegen, ohne ihn dabei anzusehen. »Und jetzt verschwinde.«
Kyle ignorierte ihn. Zum ersten Mal an diesem Tag sah er mich an. Er starrte auf mich herunter.
Ich rutschte weg und hielt den Atem an, als meine Rippen protestierten. Seine Augen wirkten schwarz im Gegenlicht. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Jared und Ian schlossen wie ein Bühnenvorhang die Reihe vor mir.
»Du hast gehört, was er gesagt hat«, sagte Jared.
»Kann ich noch was loswerden?«, fragte Kyle. Er lugte durch die Lücke zwischen ihnen zu mir herunter. Sie antworteten nicht.
»Es tut mir nicht leid«, erklärte mir Kyle. »Ich glaube immer noch, dass ich das Richtige getan habe.«
Ian gab seinem Bruder einen Schubs. Kyle taumelte zurück, machte aber dann wieder einen Schritt nach vorn. »Einen Moment, ich bin noch nicht fertig.«
»Doch, bist du«, sagte Jared. Er hatte die Fäuste geballt, die Haut über seinen Fingerknöcheln war weiß. Alle hatten jetzt die Unruhe bemerkt. Der Raum war verstummt, die Fröhlichkeit des Spiels verpufft.
»Nein, bin ich nicht.« Kyle hob die Hände in einer Geste der Kapitulation. »Ich glaube nicht, dass ich etwas falsch gemacht habe, aber du hast mir das Leben gerettet. Ich weiß nicht, warum, aber du hast es getan. Also würde ich sagen, Leben gegen Leben. Ich werde dich nicht umbringen. So begleiche ich meine Schuld.«
»Du blödes Arschloch«, sagte Ian.
»Wer ist hier in einen Wurm verknallt, Mann? Und du nennst mich blöd?«
Ian hob die Fäuste und beugte sich vor.
»Ich werde dir sagen, warum«, sagte ich lauter als beabsichtigt. Aber es hatte den gewünschten Effekt. Ian, Jared und Kyle drehten sich zu mir um und vergaßen für den Moment ihren Kampf. Das machte mich nervös. Ich räusperte mich. »Ich habe dich nicht abstürzen lassen, weil ... weil ich nicht bin wie du. Damit will ich nicht sagen, dass ich nicht ... wie ein Mensch bin. Denn es gibt hier noch andere, die genauso gehandelt hätten. Es gibt freundliche und gute Menschen hier. Menschen wie deinen Bruder und Jeb und Trudy ... Ich sage nur, dass ich nicht so bin wie du ganz persönlich.«
Kyle starrte mich einen Moment lang an und prustete dann los. Er wandte sich von uns ab, da er seine Botschaft losgeworden war und ging weg, um sich Wasser zu holen. »Leben gegen Leben«, rief er über die Schulter zurück.
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm glauben konnte. Ganz und gar nicht sicher. Menschen waren gute Lügner.
Begehrt
Es gab ein Muster bei den Siegen. Wenn Jared und Kyle zusammenspielten, gewannen sie. Wenn Jared mit Ian spielte, dann gewann deren Mannschaft. Es kam mir so vor, als wäre Jared unbesiegbar, bis ich die beiden Brüder zusammenspielen sah.
Zunächst sah es so aus, als wäre es eine konfliktbeladene Situation, zumindest für Ian, mit Kyle in derselben Mannschaft zu spielen. Aber nachdem sie ein paar Minuten in der Dunkelheit herumgerannt waren, fielen sie in ein vertrautes Muster - ein Muster, das bereits lange, bevor ich auf diesen Planeten gekommen war, existiert hatte.
Kyle wusste bereits, was Ian tun würde, bevor er es tat, und umgekehrt. Sie verstanden sich wortlos. Sogar als Jared die besten Spieler auf seine Seite zog - Brandt, Andy, Wes, Aaron, Lily und Maggie als Torwart -, gewannen Kyle und Ian.
»Okay, okay«, sagte Jeb, als er Aarons Versuch, ein Tor zu schiessen, mit einer Hand vereitelte und den Ball unter den Arm klemmte. »Ich glaube, wir wissen alle, wer die Sieger sind. So ... jetzt muss ich den Spielverderber machen, aber die Arbeit wartet ... und um ehrlich zu sein, bin ich total k.o.«
Es gab ein paar halbherzige Proteste und etwas Gejammer, aber vor allem Gelächter. Niemand schien sich darüber aufzuregen, dass dem Spaß ein Ende bereitet wurde. Ein paar Leute setzten sich da, wo sie gerade standen, auf den Boden und nahmen den Kopf zwischen die Knie, um tief durchzuatmen: Jeb war nicht der Einzige, der nicht mehr konnte.
Die Leute begannen in Zweier- und Dreiergrüppchen den Raum zu verlassen. Ich rutschte an den Rand des Durchgangs um sie - vermutlich auf dem Weg zur Küche - vorbeizulassen. Die Mittagszeit musste schon vorbei sein, obwohl das in diesem schwarzen Loch schwer festzustellen war. Durch die Lücken zwischen den herausströmenden Menschen hindurch beobachtete ich Kyle und Ian.
Als das Spiel zu Ende war, hatte Kyle seine Hand zum Abschlagen gehoben, aber Ian war an ihm vorbeimarschiert, ohne auf die Geste einzugehen. Daraufhin packte Kyle seinen Bruder an der Schulter und wirbelte ihn herum. Ian stieß Kyles Hand weg. Ich befürchtete, dass es einen Kampf geben würde - und so sah es zunächst auch aus. Kyles Faust bewegte sich auf Ians Magen zu. Ian wich ihr jedoch problemlos aus und ich konnte erkennen, dass hinter dem Schlag keine Kraft steckte. Kyle lachte und nutzte seine größere Reichweite, um Ian mit der Faust über den Kopf zu rubbeln. Ian schlug seine Hand weg, aber diesmal lächelte er halb.