»Glaubst du dann nicht...«, Ian brach ab und beugte sich näher zu mir, so dass ich nichts außer seinem Gesicht sehen konnte, nur Schnee und Saphire und Ebenholz, »... dass du vielleicht das Beste aus der Zeit, die du hast, machen solltest? Dass du leben solltest, solange du lebst?«
Ich sah es nicht kommen, so wie bei Jared. Ian war mir nicht vertraut. Melanie erkannte vor mir, was er tun würde, nur eine Sekunde bevor seine Lippen die meinen berührten. Nein!
Es war nicht wie bei Jareds Kuss. Bei Jared gab es keine Gedanken mehr, bloß Verlangen. Keine Kontrolle. Ein Funke auf Benzin - unausweichlich. Bei Ian wusste ich nicht einmal, was ich fühlte. Alles war verschwommen und durcheinander. Seine Lippen waren weich und warm. Er drückte sie nur leicht auf meine und strich dann mit ihnen über meinen Mund.
»Gut oder schlecht?«, flüsterte er, seine Lippen auf meinen.
Schlecht, schlecht, schlecht!
»Ich ... ich kann nicht denken.« Als ich meine Lippen beim Sprechen bewegte, bewegte er seine mit.
»Das klingt ... gut.«
Jetzt drückte er seinen Mund fester auf meinen. Er nahm meine Unterlippe zwischen seine Lippen und zupfte sanft daran.
Melanie wollte ihn schlagen - viel dringender, als sie Jared hatte schlagen wollen. Sie wollte ihn wegstoßen und ihm dann ins Gesicht treten. Die Vorstellung war grauenhaft. Sie stand in völligem Widerspruch zu dem Gefühl, das Ians Kuss in mir auslöste.
»Bitte«, flüsterte ich.
»Ja?«
»Bitte hör auf. Ich kann nicht denken. Bitte.«
Er zog sich sofort zurück und verschränkte die Hände. »Okay«, sagte er schüchtern.
Ich presste mir die Handflächen vors Gesicht und wünschte, ich könnte Melanies Wut wegdrücken.
»Na, immerhin hat mich niemand geschlagen«, sagte Ian und grinste.
»Sie hätte am liebsten mehr als das getan. Ich hasse es, wenn sie zornig ist. Davon tut mir der Kopf weh. Wut ist etwas so ... Hässliches.«
»Warum hat sie es nicht getan?«
»Weil ich die Kontrolle nicht verloren habe. Sie kann nur ausbrechen, wenn ich ... außer mir bin.«
Er beobachtete mich, während ich meine Stirn knetete. Beruhige dich, bat ich sie. Er fasst mich überhaupt nicht an. Hat er vergessen, dass ich hier bin? Interessiert ihn das überhaupt? Das hier bin immer noch ich! Ich habe versucht, es ihm zu erklären. Und was ist mit dir? Hast du Jared schon vergessen?
Sie feuerte Erinnerungen auf mich ab, so wie sie es zu Anfang getan hatte, nur dass sie diesmal wie Hiebe waren. Tausend Schläge seines Lächelns, seiner Augen, seiner Lippen auf meinen, seiner Hände auf meiner Haut ...
Natürlich nicht. Hast du vergessen, dass du nicht willst, dass ich ihn liebe?
»Sie spricht mit dir.«
»Sie schreit mich an«, berichtigte ich.
»Das kann ich jetzt erkennen. Ich kann sehen, wie du dich auf das Gespräch konzentrierst. Das ist mir bis heute nie aufgefallen.«
»Sie ist nicht immer so laut.«
»Es tut mir wirklich leid, Melanie«, sagte er. »Ich weiß, dass das unmöglich für dich sein muss.«
Sie stellte sich erneut vor, wie ihr Fuß seine wohlgeformte Nase zerschmetterte und sie so krumm zurückließ wie Kyles.
Sag ihm, ich will seine Entschuldigungen nicht hören. Ich zuckte zusammen.
Ian lächelte gequält. »Sie nimmt meine Entschuldigung nicht an.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das heißt also, sie kann ausbrechen? Wenn du außer dir bist?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Manchmal, wenn sie mich überrascht und ich von meinen ... Gefühlen überwältigt werde. Gefühle stören die Konzentration. Aber in letzter Zeit ist es schwerer für sie. Als wäre die Tür zwischen uns verschlossen. Ich weiß nicht, warum. Ich habe richtig versucht, sie rauszulassen, als Kyle ...« Ich brach abrupt ab und biss die Zähne zusammen.
»Als Kyle versucht hat dich umzubringen«, beendete er nüchtern den Satz. »Da wolltest du sie rauslassen? Warum?«
Ich sah ihn nur an.
»Um gegen ihn zu kämpfen?« Ich antwortete nicht.
Er seufzte. »Okay. Dann eben nicht. Was glaubst du, warum die ... Tür verschlossen ist?«
Ich runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht. Vielleicht einfach, weil die Zeit fortschreitet... Es beunruhigt uns beide auch.«
»Aber sie ist schon mal ausgebrochen, um Jared zu schlagen.«
»Ja.« Ich schauderte bei der Erinnerung an meine Faust, die gegen seinen Kiefer gedonnert war.
»Weil du außer dir warst und von deinen Gefühlen überwältigt?«
»Ja.«
»Was hat er gemacht? Dich einfach nur geküsst?« Ich nickte.
Ians Augen wurden schmal. »Was?«, fragte ich. »Was ist los?«
»Wenn Jared dich küsst, bist du ... von deinen Gefühlen überwältigt.«
Ich sah ihn an und sein Gesichtsausdruck beunruhigte mich.
Melanie genoss ihn. Ganz genau!
Er seufzte. »Und wenn ich dich küsse ... bist du nicht sicher, ob du das magst. Du bist nicht ... überwältigt.«
»Oh.« Ian war eifersüchtig. Was für eine seltsame Welt dies doch war. »Tut mir leid.«
»Das muss dir nicht leidtun. Ich habe dir ja gesagt, ich würde dir Zeit lassen, und es macht mir nichts aus, abzuwarten, bis du darüber nachgedacht hast. Es macht mir überhaupt nichts aus.«
»Was macht dir dann was aus?« Denn irgendetwas gab es da offenbar.
Er holte tief Luft und ließ sie langsam wieder herausströmen. »Ich habe gemerkt, wie sehr du Jamie liebst. Das war immer ganz offensichtlich. Wahrscheinlich hätte ich merken müssen, dass du Jared auch liebst. Vielleicht wollte ich es nicht wahrhaben. Aber es ist natürlich logisch. Du bist wegen den beiden hergekommen. Du liebst sie beide, genau wie Melanie. Jamie wie einen Bruder. Und Jared ...«
Er wandte den Blick ab und starrte die Wand über mir an. Ich musste auch wegschauen und sah auf einen Sonnenstrahl auf der roten Tür.
»Wie viel davon ist Melanie?«, wollte er wissen. »Ich weiß es nicht. Spielt das eine Rolle?«
Ich konnte seine Antwort kaum hören.
»Ja. Für mich schon.« Ohne mich anzusehen oder überhaupt zu bemerken, was er da tat, nahm Ian wieder meine Hand.
Eine ganze Weile war es sehr still. Sogar Melanie war still.
Das war schön.
Dann, als wäre ein Schalter umgelegt worden, war Ian wieder ganz er selbst. Er lachte.
»Die Zeit ist auf meiner Seite«, sagte er grinsend. »Wir haben hier drin noch den Rest unseres Lebens vor uns. Eines Tages wirst du dich fragen, was du je in Jared gesehen hast.«
Träum weiter.
Ich lachte mit ihm, glücklich, dass er wieder Witze machte.
»Wanda? Wanda, kann ich reinkommen?«