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Ich setzte jetzt leise und behutsam einen Fuß vor den anderen. Es war ganz still. Einen Moment lang fragte ich mich, ob ich mich geirrt hatte und gar niemand hier war. Aber als dann der unregelmäßige Eingang in Sicht kam, der einen großen Fleck aus weißem Sonnenlicht an die gegenüberliegende Wand warf, konnte ich ein leises Schluchzen hören.

Auf Zehenspitzen schlich ich bis an den Rand des Durchgangs und hielt an, um zu lauschen.

Das Schluchzen dauerte an. Gleichzeitig war ein anderes Geräusch zu hören, ein sanftes, rhythmisches Klopfen.

»Ganz ruhig.« Das war Jebs belegte Stimme. »Ist ja gut, ist gut, Doc. Nimm es dir nicht so zu Herzen.«

Gedämpfte Schritte, von mehr als einer Person, bewegten sich durch den Raum. Stoff raschelte. Ein wischendes Geräusch. Es erinnerte mich an die Geräusche beim Saubermachen.

Ich nahm einen Geruch wahr, der nicht hierhergehörte. Eigenartig ... nicht direkt metallisch, aber ich kam auch nicht darauf, was es sonst war. Der Geruch war mir nicht vertraut - ich war mir sicher, dass ich so etwas nie zuvor gerochen hatte - und doch hatte ich das seltsame Gefühl, dass er mir eigentlich vertraut sein müsste.

Ich hatte Angst, um die Ecke zu biegen.

Was ist das Schlimmste, das uns passieren kann?, argumentierte Mel. Weggeschickt zu werden?

Du hast Recht.

Die Dinge hatten sich wirklich verändert, wenn das das Schlimmste war, was ich von den Menschen noch zu erwarten hatte.

Ich atmete tief durch - wobei ich erneut diesen seltsamen, unpassenden Geruch wahrnahm - und bog um die felsige Ecke in das Krankenzimmer.

Niemand bemerkte mich.

Doc kniete auf dem Boden; das Gesicht hatte er in den Händen vergraben und seine Schultern bebten. Jeb hatte sich über ihn gebeugt und klopfte ihm auf den Rücken.

Jared und Kyle legten eine behelfsmäßige Bahre neben eins der beiden Feldbetten, die in der Mitte des Raumes standen. Jareds Gesicht war unbeweglich - die Maske war während seiner Abwesenheit zurückgekehrt.

Die Feldbetten waren nicht leer wie sonst immer. Etwas, das unter dunkelgrünen Laken verborgen war, füllte ihre komplette Länge aus. Lang und unregelmäßig mit vertrauten Rundungen ...

Docs selbstgemachter Schreibtisch stand am Kopfende der beiden Feldbetten, dort, wo das Sonnenlicht am hellsten war. Der Tisch glitzerte silbrig - glänzende Skalpelle und eine Ansammlung antiquierter OP-Werkzeuge, deren Namen ich nicht kannte.

Aber heller noch leuchteten andere silberne Dinge. Glitzernde Silberstücke, die in verdrehten, misshandelten Fetzen auf dem Tisch verstreut waren ... winzige ausgerissene, nackte und zerfetzte Silberfasern ... Spritzer einer silbernen Flüssigkeit, die auf dem Tisch, der Decke, den Wänden verschmiert war ...

Die Stille im Raum wurde von meinem Schrei zerrissen. Der ganze Raum wurde zerrissen. Er wankte und drehte sich bei dem Geräusch, wirbelte um mich herum, so dass ich den Weg nach draußen nicht finden konnte. Die Wände, die silberbefleckten Wände wuchsen in die Höhe und blockierten den Ausgang, egal, wohin ich mich wandte.

Jemand rief meinen Namen, aber ich konnte nicht erkennen, wessen Stimme es war. Das Schreien war zu laut. Es tat in meinem Kopf weh. Die Felswand, an der Silber herunterrann, stürzte auf mich und ich fiel zu Boden. Schwere Hände hielten mich dort fest.

»Doc, Hilfe!«

»Was ist los mit ihr?« »Hat es einen Anfall?«

»Was hat sie gesehen?«

»Nichts ... nichts. Wir haben die Körper abgedeckt!«

Das war eine Lüge! Die Körper waren grauenhaft entblößt - in obszönen Verrenkungen über dem glitzernden Tisch verteilt. Entstellte, verstümmelte, gequälte Körper, in Fetzen gerissen ... Ich hatte die noch nicht voll entwickelten Fühler, die immer noch mit dem abgeschnittenen Vorderteil eines Kindes verbunden waren, genau gesehen. Noch ein Kind! Ein Baby! Ein Baby, achtlos in Stücke gerissen und über den blutverschmierten Tisch verteilt...

Mein Magen drehte sich, so wie sich die Wände um mich drehten, und Säure stieg mir die Kehle hoch.

»Wanda? Kannst du mich hören?« »Ist sie bei Bewusstsein?«

»Ich glaube, sie muss sich übergeben.«

Die letzte Stimme hatte Recht. Kräftige Hände hielten meinen Kopf, während die Magensäure mit Gewalt überlief.

»Was machen wir mit ihr, Doc?«

»Haltet sie fest, damit sie sich nicht selbst verletzt.«

Ich hustete und wand mich, versuchte zu entkommen. Meine Kehle war wieder frei.

»Lasst mich los!«, stieß ich schließlich hervor. Die Wörter klangen verzerrt. »Geht weg von mir! Geht weg, ihr Monster! Folterknechte!«

Ich kreischte erneut wortlos, kämpfte gegen die Arme, die mich festhielten, an.

»Beruhige dich, Wanda! Schsch! Alles ist gut!« Das war Jareds Stimme. Ausnahmsweise spielte es keine Rolle, dass es Jared war.

»Monster!«, schrie ich ihn an.

»Sie ist hysterisch«, sagte Doc. »Halt sie fest.«

Ein harter, stechender Schlag peitschte mir ins Gesicht. Ich hörte ein Keuchen, weit weg von dem Tumult direkt um mich herum.

»Was tust du denn da?«, brüllte Ian.

»Sie hat einen Anfall oder so etwas, Ian. Doc versucht sie wieder zu sich zu bringen.«

Meine Ohren klingelten, allerdings nicht von dem Schlag. Es war der Geruch - der Geruch des silbernen Blutes, das von den Wänden tropfte, der Geruch nach dem Blut der Seelen. Der Raum wirbelte um mich herum, als wäre er lebendig. Das Licht bildete seltsame Muster, geformt wie die Ungeheuer aus meiner Vergangenheit. Ein Geier, der seine Flügel ausbreitete, eine Klauenbestie, die ihre schweren Zangen vor meinem Gesicht schwenkte ... Doc lächelte und griff nach mir, Silber rann ihm von den Fingerspitzen... Das Zimmer drehte sich noch einmal, langsamer jetzt, und wurde dann schwarz.

Ich war nicht lange bewusstlos. Vermutlich schon wenige Sekunden später wurde mein Kopf wieder klar - viel zu klar; ich wünschte ich hätte noch länger ohne Bewusstsein bleiben können.

Ich war in Bewegung, wurde auf und ab geschaukelt, und es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Glücklicherweise war der grauenhafte Gestank verschwunden. Die muffige, feuchte Luft der Höhlen kam mir vor wie Parfüm.

Das Gefühl, getragen zu werden, im Ann gehalten, war mir vertraut. In der ersten Woche nachdem Kyle mich angegriffen hatte, war ich in Ians Armen viel herumgekommen.

»... dachte, sie hätte bereits vermutet, was wir da treiben. Sieht so aus, als hätte ich mich geirrt«, murmelte Jared.

»Glaubst du, das war das Problem?« Ians Stimme klang scharf in dem leisen Tunnel. »Dass sie Angst hatte, weil Doc versucht hat, die anderen Seelen herauszunehmen? Dass sie Angst um sich selbst hatte?«

Jared sagte eine Minute lang nichts. »Glaubst du das nicht?« Ian machte ein Geräusch ganz hinten in der Kehle. »Nein, das glaube ich nicht. Auch wenn ich es widerlich finde, dass du Doc noch mehr ... Opfer mitgebracht hast, jetzt noch! Auch wenn sich mir dabei der Magen umdreht, ist es nicht das, was sie so aufgebracht hat. Wie kannst du nur so blind sein? Kannst du dir nicht vorstellen, was das da drin für einen Eindruck auf sie gemacht haben muss?«

»Ich bin sicher, dass wir die Körper abgedeckt hatten, als ...«

»Die falschen Körper, Jared. Oh, Wanda hätte sich bestimmt auch über eine menschliche Leiche aufgeregt - sie ist so sanftmütig; Gewalt und Tod sind nicht Teil ihrer normalen Welt. Aber denk mal darüber nach, was das auf dem Tisch für sie bedeutet haben muss.«

Jared brauchte noch einen Moment. »Oh.«

»Ja. Wenn du oder ich in eine menschliche Vivisektion geplatzt wären, mit abgetrennten Gliedmaßen, mit überall verspritztem Blut, wäre es nicht so schlimm für uns gewesen wie das vorhin für sie. Wir haben das alles schon einmal gesehen - zumindest in Horrorfilmen. Ich könnte wetten, dass ihr so etwas in ihren ganzen neun Leben noch nie begegnet ist.«