»Nichts?«, murmelte Doc. »Habt ihr auch überall nachgesehen?«
»An allen Plätzen, die uns eingefallen sind«, erwiderte Kyle. »Es geht ja nicht um Schmerzmittel oder Drogen ... viele Leute hatten guten Grund, so was zu verstecken. Die Antibiotika sind immer ganz offen aufbewahrt worden. Sie sind weg, Doc.«
Jared starrte nur wortlos den rotgesichtigen Jungen auf dem Bett an.
Ian stand neben mir. »Guck doch nicht so«, flüsterte er. »Er wird es überstehen. Er ist kräftig.«
Ich konnte nicht antworten. Hörte noch nicht einmal richtig, was er sagte.
Doc kniete sich neben Trudy und zog Jamies Kinn herunter. Er schöpfte mit einer Schale etwas von dem Eiswasser aus dem Kühler und ließ es in Jamies Mund rinnen. Wir alle hörten das schwere, schmerzhafte Geräusch, als er schluckte. Aber seine Augen blieben geschlossen.
Ich hatte das Gefühl, als würde ich mich nie wieder bewegen können. Als würde ich zu einem Teil der Felswand werden. Ich wollte zu Stein werden.
Wenn sie ein Loch für Jamie in der leeren Wüste gruben, würden sie mich dazulegen müssen.
Nicht gut genug, murrte Melanie.
Ich war verzweifelt, aber sie war voller Wut.
Sie haben es versucht.
Das reicht nicht. Jamie wird nicht sterben. Sie müssen noch mal raus.
Wozu? Selbst wenn sie eure alten Antibiotika finden würden, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch wirken? Sie haben ja sowieso nur in der Hälfte der Fälle gewirkt.
Minderwertig. Er braucht eure Medikamente nicht. Er braucht mehr als das. Etwas, das wirklich hilft ...
Meine Atmung beschleunigte sich, wurde tiefer, als mir etwas klarwurde.
Er braucht meine, erkannte ich.
Mel und ich waren beide überwältigt von der Offensichtlichkeit dieses Gedankens. Seiner Einfachheit.
Meine Steinlippen brachen auf. »Jamie braucht richtige Medikamente. Solche, wie sie die Seelen haben. Die müssen wir ihm besorgen.«
Doc runzelte die Stirn. »Wir wissen noch nicht einmal, was sie bewirken, wie sie funktionieren.«
»Spielt das eine Rolle?« Eine Spur von Melanies Wut tränkte meine Stimme. »Sie wirken. Sie können ihn retten.«
Jared starrte mich an. Ich spürte, wie auch Ians Blick auf mir ruhte und Kyles und der aller anderen im Raum. Aber ich sah nur Jared.
»Wir können sie ihm nicht besorgen, Wanda«, sagte Jeb in einem Tonfall, der bereits die Niederlage eingestand. Er hatte aufgegeben. »Wir können uns nur verlassenen Orten nähern. In einem Krankenhaus sind immer eine Menge von deinen Leuten. Vierundzwanzig Stunden am Tag. Zu viele Augen. Wir tun Jamie keinen Gefallen, wenn wir geschnappt werden.«
»Sicher«, sagte Kyle mit harter Stimme. »Die Tausendfüßler würden seinen Körper liebend gern heilen, wenn sie uns hier finden. Und zu einem von ihnen machen. Bist du darauf aus?«
Ich drehte mich zu dem großen, spöttischen Mann um. Mein Körper spannte sich an und ich beugte mich vor. Ian legte mir die Hand auf die Schulter, als wollte er mich zurückhalten. Ich glaubte nicht, dass ich Kyle gegenüber sonst handgreiflich geworden wäre, aber vielleicht täuschte ich mich. Ich war so weit von meinem normalen Ich entfernt. Als ich sprach, war meine Stimme vollkommen ruhig und tonlos. »Es muss eine Möglichkeit geben.«
Jared nickte. »Vielleicht in einem kleinen Krankenhaus. Das Gewehr wäre zu laut, aber wenn genug von uns mitkämen, um sie zu überwältigen, könnten wir Messer nehmen ...«
»Nein.« Ich faltete entsetzt die Hände auseinander. »Nein. Das habe ich nicht gemeint. Nicht töten ...«
Niemand hörte auf mich. Jeb diskutierte mit Jared. »Das geht nicht, Junge. Irgendjemand würde den Suchern Bescheid sagen. Selbst wenn wir es hinein- und wieder herausschaffen würden, würde sie das auf unsere Spur bringen. Es wäre schwer genug, überhaupt da herauszukommen. Aber dann würden sie uns folgen ...«
»Wartet. Könnt ihr nicht...« Es hörte mir immer noch niemand zu.
»Ich will auch nicht, dass der Junge stirbt, aber wir können nicht unser aller Leben für eine Person riskieren«, sagte Kyle. »Hier wird nun mal gestorben, das kommt eben vor. Wir dürfen nicht den Kopf verlieren, nur um einen Jungen zu retten.«
Ich wollte ihn würgen, ihm die Luft abdrücken, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ich, nicht Melanie. Ich war diejenige, die sich wünschte, dass sein Gesicht blau anlief. Melanie fühlte ebenso, aber mir war bewusst, wie viel dieser Gewalt direkt aus mir kam.
»Wir müssen ihn retten«, sagte ich, lauter jetzt.
Jeb sah mich an. »Kleines, wir können nicht einfach da reingehen und fragen.«
In diesem Augenblick wurde mir noch eine sehr einfache und offensichtliche Wahrheit bewusst.
»Ihr nicht. Aber ich.« Es wurde totenstill.
Ich war ganz von der Brillanz des Plans gefangen genommen, der in meinem Kopf Gestalt annahm. Seiner Perfektion. Ich redete vor allem mit mir selbst und mit Melanie. Sie war beeindruckt. Es würde funktionieren. Wir könnten Jamie retten.
»Sie sind nicht misstrauisch. Überhaupt nicht. Obwohl ich eine miserable Lügnerin bin, würden sie mich nicht verdächtigen. Sie rechnen nicht mit Lügen. Natürlich nicht. Ich bin eine von ihnen. Sie würden alles tun, um mir zu helfen. Ich würde sagen, ich hätte mich beim Wandern verletzt oder so ... Und dann würde ich sie irgendwie dazu bringen, mich allein zu lassen, und so viel mitnehmen, wie ich einstecken könnte. Stellt euch das vor! Ich könnte genug Medikamente besorgen, um alle hier zu heilen. Auf Jahre. Und Jamie wird wieder gesund! Warum ist mir das bloß nicht früher eingefallen? Vielleicht wäre es sogar für Walter noch nicht zu spät gewesen ...«
Dann sah ich mit leuchtenden Augen auf. Es war einfach
perfekt!
So perfekt, so absolut richtig, in meinen Augen so offensichtlich, dass ich ewig brauchte, um den Ausdruck in ihren Gesichtern zu deuten. Wenn Kyles Miene nicht gewesen wäre, hätte es vielleicht noch länger gedauert.
Hass. Misstrauen. Angst.
Sogar Jebs Pokerface war nicht teilnahmslos. Seine Augen waren schmal vor Argwohn.
Alle Gesichter sagten Nein.
Sind sie wahnsinnig? Begreifen sie nicht, wie sehr das uns allen helfen würde?
Sie glauben mir nicht. Sie denken, ich würde ihnen wehtun,