»Wanda?«, wiederholte Jared mit leiser Stimme, die fast ein Knurren war.
Hinter ihm im Gang standen noch mehr dreckige Gestalten. Ich bemerkte sie erst, als sie auf sein Knurren mit wütendem Gemurmel reagierten.
Ein blonder Kopf erhob sich zwischen den erstarrten Zuhörern. Paige sprang auf. »Andy!«, rief sie und stolperte zwischen den Leuten hindurch, die um sie herumsaßen. Einer der dreckigen Männer hinter Jared trat vor und fing sie auf, als sie beinahe über Wes stolperte. »Oh, Andy!«, schluchzte sie. Ihr Tonfall erinnerte mich an Melanies Stimme.
Paiges Ausbruch veränderte die Stimmung vorübergehend. Die schweigende Menge begann zu murmeln, die meisten erhoben sich. Die Geräusche waren jetzt eher ein Willkommen, als die Mehrheit der Anwesenden die zurückgekehrten Reisenden begrüßen ging. Ich versuchte den seltsamen Ausdruck auf ihren Gesichtern zu deuten - sie zwangen sich zum Lächeln und warfen mir flüchtige Blicke zu. Nach einer ganzen Weile - die Zeit um mich herum schien stillzustehen, während ich regungslos an meinem Platz stand - begriff ich langsam, dass der
Gesichtsausdruck, ich bei ihnen beobachtete, schuldbewusst war.
»Alles wird gut, Wanda«, murmelte Ian leise.
Gehetzt sah ich ihn an und suchte nach demselben schuldbewussten Ausdruck auf seinem Gesicht. Ich fand ihn nicht. Seine lebhaften Augen wurden zu abwehrenden schmalen Schlitzen, als er zu den Neuankömmlingen hinübersah.
»Was zum Teufel soll das, Leute?«, dröhnte eine neue Stimme. Kyle - der aufgrund seiner Körpergröße trotz des Drecks leicht zu erkennen war - bahnte sich einen Weg um Jared herum und kam auf ... mich zu.
»Ihr lasst euch seine Lügen auftischen? Habt ihr vollkommen den Verstand verloren? Oder hat es die Sucher hergebracht? Seid ihr jetzt alle Parasiten?«
Viele Köpfe senkten sich verschämt. Nur ein paar hielten ihr Kinn in die Luft gereckt und die Schultern aufrecht: Lily, Trudy, Heath, Wes ... und ausgerechnet der gebrechliche Walter!
»Ganz ruhig, Kyle«, sagte Walter mit seiner schwachen Stimme.
Kyle ignorierte ihn. Entschlossenen Schrittes kam er auf mich zu; seine Augen, die von demselben lebhaften Kobaltblau waren wie die seines Bruders, funkelten zornig. Dennoch wanderte mein Blick immer wieder zu Jareds dunkler Gestalt zurück und versuchte, seinen undurchsichtigen Gesichtsausdruck zu deuten.
Melanies Liebe durchströmte mich wie ein See, dessen Damm gebrochen ist, und lenkte mich noch stärker von dem wütenden Barbaren ab, der schnell näher kam.
Ian glitt in mein Blickfeld, als er sich vor mich stellte. Ich reckte den Hals, um Jared weiter ansehen zu können.
»Die Dinge hier haben sich verändert, während du weg warst, Kyle.«
Kyle blieb stehen. Ihm klappte ungläubig die Kinnlade herunter. »Sind die Sucher also wirklich hier gewesen, Ian?«
»Sie stellt keine Gefahr für uns dar.«
Kyle biss die Zähne zusammen und ich sah aus den Augenwinkeln, wie er in seine Tasche fasste.
Das erregte schließlich meine Aufmerksamkeit. Ich zuckte zurück und rechnete mit einer Waffe. Stockend flüsterte ich: »Geh ihm aus dem Weg, Ian.«
Ian reagierte nicht auf meine Bitte. Ich war überrascht, wie viel Angst mir das machte, wie sehr ich verhindern wollte, dass ihm etwas zustieß. Es war nicht der Beschützerinstinkt - dieses fest verwurzelte Bedürfnis, zu beschützen -, den ich Jamie oder sogar Jared gegenüber verspürte. Ich wusste einfach nur, dass Ian nicht beim Versuch, mich zu verteidigen, verletzt werden sollte.
Kyles Hand kam wieder zum Vorschein und ein Licht blitzte auf. Er richtete es auf Ians Gesicht und ließ es dort eine Weile ruhen. Ian zuckte nicht vor dem Lichtstrahl zurück.
»Wie dann?«, wollte Kyle wissen und steckte die Taschenlampe wieder ein. »Du bist also kein Parasit. Wie hat es dich rumgekriegt?«
»Beruhig dich und wir erklären dir alles.« »Nein.«
Der Widerspruch kam nicht von Kyle, sondern von weiter hinten. Ich sah, wie Jared sich langsam zwischen den schweigenden Zuschauern hindurch auf uns zubewegte. Als er näher kam, Jamie mit verwirrtem Blick immer noch an seine Hand geklammert, konnte ich sein Gesicht unter der Maske aus Dreck besser erkennen. Sogar Melanie, die über seine sichere Rückkehr außer sich vor Freude war, konnte den hasserfüllten Ausdruck nicht missverstehen.
Jeb hatte all seine Anstrengungen auf die falschen Leute verschwendet. Es spielte keine Rolle, dass Trudy oder Lily mit mir sprachen, dass Ian sich zwischen seinen Bruder und mich stellen würde, dass Sharon und Maggie mich nicht angriffen. Der Einzige, der überzeugt werden musste, hatte jetzt endlich eine Entscheidung getroffen.
»Ich glaube nicht, dass sich hier irgendjemand beruhigen muss«, stieß Jared hervor. »Jeb«, fuhr er fort, ohne nachzusehen, ob der alte Mann ihm gefolgt war, »gib mir das Gewehr.«
Das Schweigen, das auf seine Worte folgte, war so angespannt, dass ich den Druck auf meinen Ohren spüren konnte.
Von dem Augenblick an, in dem ich sein Gesicht richtig sehen konnte, hatte ich gewusst, dass es vorbei war. Ich wusste, was ich jetzt zu tun hatte; Melanie war einverstanden. So leise ich konnte, machte ich einen Schritt zur Seite und leicht nach hinten, so dass ich nicht länger hinter Ian stand. Dann schloss ich die Augen.
»Hab's zufällig gerade nicht bei mir«, sagte Jeb gedehnt.
Ich linste unter meinen Lidern hervor, als Jared herumwirbelte, um sich zu vergewissern, dass Jeb die Wahrheit sagte.
Jareds Atem pfiff ärgerlich durch seine Nasenlöcher. »Na gut«, murmelte er. »So wird es allerdings länger dauern. Es wäre humaner, wenn du das Ding schnell finden würdest.«
»Bitte, Jared, lass uns reden«, sagte Ian und verteilte sein Gewicht sicher auf beide Beine, da er die Antwort bereits kannte.
»Ich glaube, es ist schon viel zu viel geredet worden«, knurrte Jared. »Jeb hat mir die Entscheidung überlassen und ich habe meinen Entschluss gefasst.«
Jeb räusperte sich geräuschvoll. Jared drehte sich um, um ihn erneut anzusehen.
»Was?«, fragte er. »Du hast die Regel selbst aufgestellt, Jeb.« »Damit hast du wohl Recht.« Jared drehte sich wieder zu mir.
»Ian, geh mir aus dem Weg.«
»Na, na, jetzt warte mal einen Moment«, fuhr Jeb fort. »Wenn du dich erinnerst, war die Regeclass="underline" Zu wem der Körper gehört, der trifft die Entscheidung.«
Die Ader auf Jareds Stirn pulsierte deutlich sichtbar. »Und?«
»Mir scheint, es gibt hier jemanden, der mindestens so viel Anspruch auf sie hat wie du. Wenn nicht sogar noch mehr.«
Jared starrte vor sich hin, während er das verarbeitete. Nach einer Weile verstand er und runzelte die Brauen. Er sah auf den Jungen hinab, der immer noch an seinem Arm hing. Die ganze Freude war aus Jamies Gesicht gewichen und hatte es bleich und entsetzt zurückgelassen.
»Das kannst du doch nicht machen, Jared«, stieß er hervor. »Das würdest du doch nicht tun. Wanda ist gut. Sie ist meine Freundin! Und Mel! Was ist mit Mel? Du kannst Mel doch nicht umbringen! Bitte! Du musst...« Mit gequältem Gesichtsausdruck brach er ab.
Ich schloss meine Augen wieder und versuchte das Bild des leidenden Jungen aus meinem Kopf auszusperren. Es war bereits fast unmöglich, nicht zu ihm zu gehen. Ich zwang meine Muskeln zum Stillhalte, indem ich mir klarmachte, dass es ihm nicht helfen würde, wenn ich mich jetzt rührte.
»Also«, sagte Jeb in viel zu beiläufigem Tonfall für den Anlass, »wie du siehst, ist Jamie nicht einverstanden. Ich denke mal, er hat genauso viel Mitspracherecht wie du.«
Die Antwort ließ so lange auf sich warten, dass ich meine Augen wieder ganz öffnen musste.
Jared starrte Jamies gequältes, angsterfülltes Gesicht entsetzt an. »Wie konntest du das zulassen, Jeb?«, flüsterte er. »Es gibt wohl doch einiges zu bereden«, antwortete Jeb. »Aber warum gönnst du dir nicht erst mal eine Verschnaufpause? Vielleicht bist du nach einem Bad eher zu einem Gespräch bereit.«