Jared sah den alten Mann grimmig an; in seinem Blick spiegelten sich Fassungslosigkeit und der Schmerz des Verratenen. Ich kannte nur menschliche Vergleiche dafür: Cäsar und Brutus, Jesus und Judas.
Die unerträgliche Anspannung dauerte noch eine weitere lange Minute an, dann schüttelte Jared Jamies Finger von seinem Arm. »Kyle«, bellte er, drehte sich um und stapfte aus dem Raum. Kyle schnitt seinem Bruder zum Abschied eine Grimasse und folgte ihm.
Die anderen verdreckten Expeditionsteilnehmer gingen schweigend hinter ihnen her, Paige sicher im Arm ihres Andy.
Die meisten übrigen Menschen, all diejenigen, die aus Scham, dass sie mich in ihre Gesellschaft aufgenommen hatten, ihre Köpfe hängen ließen, schlurften hinter ihnen hinaus. Nur Jamie, Jeb und Ian, außerdem Trudy, Geoffrey, Heath, Lily, Wes und Walter blieben.
Niemand sagte etwas, bis das Echo der Schritte verhallt war. »Puh!«, keuchte Ian. »Das war knapp. Gute Idee, Jeb.« »Aus der Verzweiflung geboren. Aber wir sind noch nicht aus dem Schneider«, antwortete Jeb.
»Allerdings! Du hast das Gewehr nicht an irgendeiner leicht zugänglichen Stelle liegenlassen, oder?«
»Nein. Ich hab mir schon gedacht, dass das irgendwann passieren würde.«
»Na, immerhin.«
Jamie zitterte, allein in der Leere, die der Exodus zurückgelassen hatte. Da ich die Anwesenden zu meinen Freunden zählen konnte, wagte ich es, zu ihm zu gehen. Er schlang mir die Arme um die Taille und ich klopfte ihm mit flatternden Händen auf den Rücken.
»Ist ja gut«, log ich flüsternd. »Ist ja gut.« Ich wusste, dass jeder Idiot den falschen Unterton heraushören würde, und Jamie war kein Idiot.
»Er wird dir nichts tun«, sagte Jamie mit belegter Stimme, während er gegen seine Tränen ankämpfte. »Ich erlaube es ihm nicht.«
»Schsch«, murmelte ich.
Ich war verzweifelt - ich spürte, dass mein Gesicht vor Schreck erstarrt war. Jared hatte Recht - wie hatte Jeb das bloß zulassen können? Wenn sie mich doch gleich an meinem ersten Tag hier umgebracht hätten, bevor mich Jamie überhaupt zu Gesicht bekommen hatte ... Oder in der ersten Woche, in der Jared mich von allen anderen abgeschirmt hatte, bevor Jamie und ich Freunde geworden waren ... Oder wenn ich bloß meinen Mund gehalten hätte, was Melanie anging ... Für all das war es jetzt zu spät. Meine Arme schlossen sich um den Jungen.
Melanie war genauso verzweifelt wie ich. Mein armer Kleiner.
Ich habe dir ja gleich gesagt, dass es eine Schnapsidee ist, ihm alles zu erzählen, erinnerte ich sie.
Was wird mit ihm, wenn wir sterben?
Es wird fürchterlich - er wird traumatisiert sein und verängstigt und am Boden zerstört...
Melanie unterbrach mich. Hör auf. Ich weiß, ich weiß. Aber was können wir dagegen tun?
Am besten nicht sterben.
Melanie und ich dachten darüber nach, wie wahrscheinlich es war, dass wir überleben würden, und verzweifelten.
Ian klopfte Jamie auf den Rücken - von dem Schlag vibrierten unsere beiden Körper.
»Quäl dich nicht deswegen, Junge«, sagte er. »Du bist nicht allein.«
»Sie sind bloß schockiert, das ist alles.« Ich erkannte Trudys Altstimme hinter mir. »Sobald wir die Gelegenheit haben, ihnen alles zu erklären, werden sie zur Vernunft kommen.«
»Zur Vernunft kommen? Kyle?«, zischte jemand fast Unhörbar vor sich hin.
»Wir wussten, dass das irgendwann passieren würde«, murmelte Jeb. »Wir müssen es einfach durchstehen. Vorbeiziehen lassen wie einen Sturm.«
»Vielleicht solltest du dieses Gewehr holen gehen«, schlug Lily ruhig vor. »Die heutige Nacht könnte lang werden. Wanda kann bei Heidi und mir schlafen ...«
»Ich glaube, es wäre besser, sie woanders unterzubringen«, widersprach Ian. »Vielleicht in den südlichen Tunneln? Ich habe ein Auge auf sie. Jeb, würdest du mir helfen?«
»Bei mir würden sie nicht nach ihr suchen.« Walters Angebot war nicht mehr als ein Flüstern.
Wes übertönte Walters Worte. »Ich komme mit dir, Ian. Sie sind zu sechst.«
»Nein«, brachte ich schließlich hervor. »Nein. Das ist nicht richtig. Ihr dürft euch nicht gegenseitig bekämpfen. Ihr gehört alle hierher. Ihr gehört zusammen. Kein Kampf, nicht meinetwegen.«
Ich befreite mich aus Jamies Umarmung und hielt seine Handgelenke fest, als er versuchte, mich davon abzuhalten.
»Ich brauche einen Moment für mich«, erklärte ich ihm, ohne all die Blicke zu beachten, die ich auf meinem Gesicht spürte. »Ich muss einen Moment allein sein.« Ich drehte meinen Kopf und suchte Jebs Blick. »Und ihr solltet die Möglichkeit haben, das hier zu besprechen, ohne dass ich zuhöre. Es ist nicht fair, im Angesicht des Feindes über Strategien beratschlagen zu müssen.«
»Jetzt sei doch nicht so«, sagte Jeb.
»Gib mir Zeit zum Nachdenken, Jeb.« Ich entfernte mich von Jamie und ließ seine Hände los. Gleichzeitig spürte ich eine Berührung auf meiner Schulter und zuckte zusammen.
Es war nur Ian. »Es ist keine gute Idee, alleine da draußen herumzulaufen.«
Ich beugte mich zu ihm und versuchte so leise zu sprechen, dass Jamie mich nicht verstehen konnte. »Warum das Unvermeidliche rauszögern? Wird es leichter oder schwerer für ihn?«
Ich glaubte die Antwort auf meine letzte Frage zu kennen. Schnell duckte ich mich unter Ians Hand weg und rannte los, auf den Ausgang zu.
»Wanda!«, rief Jamie mir hinterher. Irgendjemand sagte ihm, er solle still sein. Ich hörte keine Schritte hinter mir. Sie mussten eingesehen haben, dass es besser war, mich gehen zu lassen.
Der Gang war dunkel und verlassen. Wenn ich Glück hatte, konnte ich in der Dunkelheit unbemerkt an der Wand der großen Gartenhöhle entlangschleichen. Während meiner ganzen Zeit hier hatte ich den Ausgang nicht gefunden. Es kam mir so vor, als hätte ich jeden einzelnen Tunnel unzählige Male durchquert, und ich hatte auch nie eine Öffnung gesehen, die ich auf der Suche nach irgendetwas nicht schon erforscht hatte. Darüber dachte ich jetzt nach, als ich durch die düstersten Ecken der großen Höhle schlich. Wo war bloß der Ausgang?
Und auch über etwas anderes dachte ich nach: Wenn ich es herausfand, wäre ich imstande wegzugehen?
Mir fiel nichts ein, wofür ich gerne hier weggegangen wäre - ganz bestimmt nicht die Wüste, die draußen wartete, aber genauso wenig die Sucherin, der Heiler, meine Helferin und auch nicht mein früheres Leben, das so wenig Eindruck bei mir hinterlassen hatte. Alles, was mir wirklich etwas bedeutete, war hier bei mir Jamie. Und, obwohl er mich umbringen würde, Jared. Ich konnte mir nicht vorstellen, die beiden zu verlassen.
Und Jeb. Ian. Ich hatte jetzt Freunde. Doc, Trudy, Lily, Wes, Walter, Heath. Seltsame Menschen, die darüber hinwegsehen konnten, was ich war, und etwas in mir erblickten, was sie nicht umbringen mussten. Vielleicht war es bloß Neugier; trotzdem waren sie bereit, sich an meiner Seite dem Rest ihrer verschworenen Gemeinschaft von Überlebenden entgegenzustellen. Verwundert schüttelte ich den Kopf, während ich mit den Händen über den rauen Fels strich.