Melanie behielt einen kühlen Kopf, während ich in Panik geriet.
Steh auf, befahl sie. Wieso?
Du willst vielleicht nicht kämpfen, aber du kannst wegrennen. Du musst es wenigstens versuchen - Jamie zuliebe.
Ich begann wieder zu atmen, leise und flach. Langsam verlagerte ich mein Gewicht nach vorne, bis ich auf meinen Fußballen hockte. Adrenalin schoss durch meine Muskeln und ließ sie kribbeln und sich anspannen. Ich wäre schneller als die meisten, die versuchten mich einzuholen, aber wo sollte ich hinrennen?
»Wanda?«, flüsterte jemand. »Wanda? Bist du hier? Ich bin's.«
Seine Stimme versagte und ich erkannte ihn.
»Jamie!«, flüsterte ich heiser. »Was tust du hier? Ich habe dir doch gesagt, ich will allein sein.«
Die Erleichterung war ihm anzuhören, als er jetzt die Stimme etwas hob. »Alle suchen nach dir, na, du weißt schon, Trudy und Lily und Wes - die alle. Aber es soll niemand merken, dass du verschwunden bist. Jeb hat sein Gewehr wieder. Ian ist bei Doc. Sobald Doc Zeit hat, wird er mit Jared und Kyle reden. Auf Doc hören sie alle. Du musst dich also nicht verstecken. Alle sind beschäftigt und du bist bestimmt müde ...«
Während Jamie sprach, kam er immer näher, bis seine Finger meinen Arm und dann meine Hand berührten.
»Ich verstecke mich eigentlich gar nicht, Jamie. Ich habe dir doch gesagt, dass ich nachdenken muss.«
»Du könntest aber auch nachdenken, wenn Jeb dabei ist, oder?«
»Wo soll ich denn hin? Zurück in Jareds Zimmer? Das hier ist mein Platz.«
»Jetzt nicht mehr.« Der gewohnte störrische Unterton schlich sich wieder in seine Stimme.
»Womit sind denn alle so furchtbar beschäftigt?«, fragte ich, um ihn abzulenken. »Was macht Doc?«
Mein Versuch war erfolglos; er antwortete nicht. Nach einer Schweigeminute berührte ich seine Wange. »Hör zu, du solltest zu Jeb zurückgehen. Sag den anderen, sie sollen nicht länger nach mir suchen. Ich bleibe einfach noch ein bisschen hier.«
»Du kannst hier nicht schlafen.«
»Das habe ich früher auch gemacht.«
Ich spürte in meiner Hand, wie er mit dem Kopf schüttelte. »Dann gehe ich wenigstens Matten und Kissen holen.«
»Ich brauche nicht mehr als eine.«
»Ich werde bestimmt nicht bei Jared bleiben, solange er sich so idiotisch verhält.«
Ich stöhnte innerlich. »Dann schläfst du eben bei dem schnarchenden Jeb. Du gehörst zu ihnen, nicht zu mir.«
»Ich gehöre dahin, wo ich will.«
Die Gefahr, dass Kyle mich hier finden könnte, ließ mich zögern. Aber dieses Argument würde Jamie nur das Gefühl geben, für meinen Schutz verantwortlich zu sein.
»Na gut, aber du musst erst Jeb um Erlaubnis fragen.« »Später. Heute Abend belästige ich Jeb besser nicht.« »Was macht er denn?«
Jamie antwortete nicht. Erst da merkte ich, dass er meine Frage vorhin absichtlich nicht beantwortet hatte. Es gab da etwas, das er mir nicht sagen wollte. Vielleicht waren auch die anderen damit beschäftigt, mich zu suchen. Vielleicht hatte Jareds Rückkehr ihre ursprüngliche Meinung über mich wieder aufleben lassen. Zumindest hatte es in der Küche vorhin danach ausgesehen, als sie die Köpfe eingezogen und mich schuldbewusst beäugt hatten. »Was ist los, Jamie?«, fragte ich nach.
»Ich darf es dir nicht sagen«, murmelte er. »Und das werde ich auch nicht.« Er hatte seine Arme fest um meine Taille geschlungen und sein Gesicht an meine Schulter gepresst. »Alles wird gut«, versprach er mir mit belegter Stimme.
Ich tätschelte seinen Rücken und fuhr mit den Fingern durch seine strubbelige Mahne. »Okay«, sagte ich und erklärte mich dadurch mit seinem Schweigen einverstanden. Schließlich hatte ja auch ich meine Geheimnisse. »Mach dir keine Sorgen, Jamie. Was auch immer es ist, es wird sich alles zum Besten wenden. Dir wird nichts passieren.« Als ich das sagte, wünschte ich mir von ganzem Herzen, es wäre die Wahrheit.
»Ich weiß nicht, was ich hoffen soll«, flüsterte er.
Als ich in die Dunkelheit starrte und herauszufinden versuchte, was er mir verschwieg, wurde mein Blick von einem schwachen Schein ganz am Ende des Gangs angezogen - gedämpft, aber verräterisch in der tiefen Dunkelheit der Höhle.
»Pssst«, zischte ich. »Da kommt jemand. Schnell, versteck dich hinter den Kartons.«
Jamies Kopf fuhr hoch und wandte sich dem gelben Licht zu, das von Sekunde zu Sekunde heller wurde. Ich lauschte auf die dazugehörigen Schritte, hörte aber nichts.
»Ich werde mich nicht verstecken«, wisperte er. »Stell dich hinter mich, Wanda.«
»Nein!«
»Jamie!«, rief Jared. »Ich weiß, dass du dahinten bist!«
Meine Beine fühlten sich taub an. Musste es ausgerechnet Jared sein? Es wäre so viel leichter für Jamie, wenn Kyle mich umbrachte.
»Geh weg!«, rief Jamie zurück.
Das gelbe Licht kam schnell näher und wurde zu einem Kreis auf der Wand. Jared kam um die Ecke marschiert und die Taschenlampe in seiner Hand schwang über dem Steinboden hin und her. Er war jetzt sauber und trug ein ausgeblichenes rotes Hemd, das ich wiedererkannte - es hatte in dem Raum gehangen, in dem ich wochenlang gelebt hatte, und war daher ein vertrauter Anblick. Sein Gesicht war ebenfalls vertraut - es hatte exakt denselben Ausdruck, mit dem er mich immer ansah, seit ich hier aufgetaucht war.
Der Strahl der Taschenlampe schien mir ins Gesicht und blendete mich. Ich wusste, dass das Licht von dem Silber hinter meinen Augen hell reflektiert wurde, denn ich bemerkte, wie Jamie zusammenfuhr - nur ein kleines Zucken, dann stellte er sich noch breitbeiniger hin.
»Geh weg von dem Parasiten!«, stieß Jared hervor.
»Halt's Maul!«, brüllte Jamie zurück. »Du kennst sie nicht!
Lass sie in Ruhe!«
Er klammerte sich an mich, während ich versuchte, seine Hände zu lösen.
Jared stürzte wie ein wütender Stier auf uns zu. Mit einer Hand packte er Jamie hinten am Hemd und riss ihn von mir weg. Er schüttelte den Jungen, während er brüllte: »Du bist so ein Idiot! Merkst du nicht, wie es dich benutzt?«
Instinktiv schob ich mich in den schmalen Zwischenraum zwischen ihnen. Wie ich beabsichtigt hatte, führte mein Vorsicht dazu, dass er Jamie losließ. Ich hatte dagegen nicht beabsichtigt was noch passierte - die Art, wie sein vertrauter Geruch auf meine Sinne einstürmte, die Art, wie sich die Konturen seiner Brust unter meinen Händen anfühlten.
»Lass Jamie in Ruhe«, sagte ich und wünschte mir ausnahmsweise so zu sein, wie Melanie mich gerne gehabt hätte - mit starken Händen und kräftiger Stimme.
Er schnappte mit einer Hand meine Handgelenke und schleuderte mich von ihm weg gegen die Wand. Der Aufprall traf mich überraschend und raubte mir den Atem. Ich prallte von der Felswand ab und landete wieder in den Kartons, wo ich mit einem erneuten knisternden Sturz noch mehr Zellophan zerfetzte.
Mein Puls hämmerte mir in den Ohren, während ich unglücklich verdreht auf den Kartons lag, und einen Moment lang zogen seltsame Lichter vor meinen Augen vorbei.
»Feigling!«, schrie Jamie ihn an. »Sie würde dir noch nicht mal etwas tun, um ihr eigenes Leben zu retten! Warum kannst du sie nicht einfach in Ruhe lassen?«
Ich hörte, wie die Kartons zur Seite geschoben wurden, und spürte Jamies Hände auf meinem Arm. »Wanda? Alles okay mit dir, Wanda?«
»Klar«, schnaufte ich und ignorierte das Hämmern in meinem Kopf. Im Schein der Taschenlampe, die Jared fallen gelassen haben musste, konnte ich Jamies ängstliches Gesicht über mir sehen. »Du solltest jetzt gehen, Jamie«, flüsterte ich. »Lauf.«