Es war nicht mehr nur mein Geheimnis - sowohl Jamie als auch Jeb kannten die Wahrheit. Außerdem war es nicht das Geheimnis, auf das es ankam. In jedem Fall vertraute ich darauf, dass Ian es nicht jedem auf die Nase band, der das als Anlass nehmen würde, mich umzubringen. »Ja«, sagte ich. »Melanie ist noch hier.«
Er nickte langsam. »Wie ist das? Für dich? Und für sie?«
»Es ist... frustrierend, für uns beide. Am Anfang hätte ich alles dafür gegeben, um sie loszuwerden, so wie es sein sollte. Aber jetzt habe ich ... ich habe mich an sie gewöhnt.« Ich lächelte schief. »Manchmal ist es nett, Gesellschaft zu haben. Für sie ist es schwieriger. Sie ist auf vielerlei Art wie eine Gefangene. In meinem Kopf eingesperrt. Sie zieht diese Gefangenschaft dem Verschwinden allerdings vor.«
»Mir war nicht klar, dass man eine Wahl hat.«
»Am Anfang gab es die auch nicht. Erst als ihr entdeckt habt, was los war, formierte sich Widerstand. Das scheint der Schlüssel zu sein - zu wissen, was los ist. Die Menschen, die überraschend übernommen wurden, haben sich nicht gewehrt.«
»Das heißt, wenn ich geschnappt würde ...?«
Ich musterte seinen wilden Gesichtsausdruck - das Feuer in seinen leuchtenden Augen.
»Ich bezweifle, dass du verschwinden würdest. Die Dinge haben sich allerdings mittlerweile geändert. Wenn sie
ausgewachsene Menschen zu fassen kriegen, stellen sie sie inzwischen nicht mehr als Wirte zur Verfügung. Zu viele Problemfälle.« Mir entschlüpfte erneut ein schiefes Lächeln. »Problemfälle wie ich. Weich geworden, eine Beziehung zu meinem Wirt aufgebaut, von meinen Weg abgekommen ...«
Er dachte lange darüber nach, wobei er manchmal mein Gesicht ansah, manchmal die Maishalme, manchmal auch gar nichts.
»Was würden sie denn dann mit mir machen, wenn sie mich jetzt erwischen würden?«, fragte er schließlich.
»Ich denke, sie würden trotzdem jemanden implantieren. Um Informationen zu bekommen. Vermutlich würden sie einen Sucher in dich einsetzen.«
Er schauderte.
»Aber sie würden dich nicht als Wirt verwenden. Unabhängig davon, ob sie die Informationen bekommen hätten oder nicht würdest du ... entsorgt.« Es war schwer, das Wort auszusprechen. Die Vorstellung machte mich krank. Seltsam - normalerweise waren es die menschlichen Verhaltensweisen, die mich krank machten. Allerdings hatte ich die Dinge auch noch nie aus der Perspektive eines Körpers betrachtet; kein anderer Planet hatte mich je dazu gezwungen. Ein Körper, der nicht richtig funktionierte, wurde schnell und schmerzlos aussortiert, denn er war genauso unnütz wie ein Auto, das nicht fuhr. Wozu sollte man ihn behalten? Es gab auch Geisteszustände, die einen Körper nutzlos machten: gefährliche psychische Abhängigkeiten, zerstörerische Sehnsüchte; Dinge, die nicht geheilt werden konnten und den Körper zu einer Gefahr für andere werden ließen. Oder eben ein Geist, der zu willensstark war um ausgelöscht zu werden. Eine Anomalie, die es nur auf diesem Planeten gab. Wie verabscheuenswert es war, einen Geist, den man nicht erobern konnte, als Defekt zu behandeln, war mir nie so deutlich bewusst geworden wie jetzt, als ich Ian in die Augen blickte.
»Und wenn du geschnappt würdest?«, fragte er. »Wenn sie rausfinden, wer ich bin ... wenn immer noch nach mir gesucht wird ...«
Ich dachte an meine Sucherin und schauderte wie er vorhin. »Sie würden mich rausnehmen und in einen anderen Wirt einsetzen, einen jungen, leicht formbaren. Sie würden darauf hoffen, dass es mir gelänge, wieder ich selbst zu werden. Vielleicht würden sie mich auf einen anderen Planeten verfrachten - mich von den schlechten Einflüssen entfernen.«
»Würdest du denn dann wieder du selbst werden?«
Unsere Blicke trafen sich. »Ich bin ich selbst. Ich bin ja trotz Melanie noch hier. Ich würde mich genauso fühlen wie jetzt, sogar als Bär oder Blume.«
»Dich würden sie nicht entsorgen?«
»Eine Seele nicht. Bei uns gibt es keine Todesstrafe - oder überhaupt irgendeine Strafe. Egal, was sie tun würden, das Ziel wäre, mich zu retten. Ich dachte immer, es könne keinen Grund geben, daran etwas zu ändern, aber jetzt bin ich selbst der lebende Beweis, dass es doch einen Grund gibt. Es wäre wahrscheinlich richtig, mich zu entsorgen. Ich bin schließlich eine Verräterin, oder?«
Ian kräuselte die Lippen. »Eher so etwas wie eine Emigrantin, würde ich sagen. Du hast dich nicht gegen sie gewandt; du hast nur ihre Gesellschaft verlassen.«
Wir schwiegen wieder. Ich wollte gerne glauben, dass er Recht hatte. Ich dachte über das Wort Emigrantin nach und versuchte mich selbst davon zu überzeugen, dass ich nichts Schlimmeres war.
Ian stieß so geräuschvoll die Luft aus, dass ich erschrak. »Wenn Doc wieder nüchtern ist, muss er mal einen Blick auf dein Gesicht werfen.« Er legte seine Hand unter mein Kinn; diesmal zuckte ich nicht zurück. Dann drehte er meinen Kopf zur Seite, so dass er die Wunde ansehen konnte.
»Ist nicht so wild. Ich bin sicher, dass es schlimmer aussieht, als es ist.«
»Das hoffe ich - es sieht nämlich furchtbar aus.« Er seufzte und räkelte sich dann. »Ich schätze mal, dass wir uns lange genug versteckt haben und Kyle inzwischen sauber und im Tiefschlaf ist. Soll ich dir mit dem Abwasch helfen?«
Ian wollte mich das Geschirr nicht im Fluss waschen lassen, wie ich es sonst immer machte. Er bestand darauf, dass wir in den dunklen Baderaum gingen, wo man mich nicht sehen konnte. Also schrubbte ich das Geschirr im flachen Ende des dunklen Beckens, während er sich den Dreck abwusch, den seine geheimnisvolle Tätigkeit zurückgelassen hatte. Dann half er mir mit den übrigen Schüsseln.
Als wir fertig waren, begleitete er mich zurück zur Küche, die sich für das Mittagessen zu füllen begann. Wieder standen frische Lebensmittel auf dem Speiseplan: weiches Weißbrot, kräftiger Cheddar, saftige, rosa Fleischwurst - alles in Scheiben geschnitten. Die Anwesenden schlangen die Köstlichkeiten gierig hinunter, obwohl ihre Verzweiflung an den hängenden Schultern und dem fehlenden Gelächter - oder auch nur einem Lächeln - immer noch abzulesen war.
Jamie wartete an unserem Stammplatz auf mich. Zwei Stapel Sandwiches lagen vor ihm, aber er aß nicht. Mit verschränkten Armen sah er mir entgegen. Ian warf ihm einen neugierigen Blick zu, ging sich aber, ohne nachzufragen, selbst etwas zu essen holen.
Ich verdrehte die Augen über Jamies Sturheit und biss ein Stück von einem Sandwich ab. Sobald ich kaute, langte Jamie auch zu. Ian kam zurück und wir aßen schweigend. Das Essen schmeckte so gut, dass man sich kaum einen Grund für ein Gespräch vorstellen konnte - oder sonst etwas, das uns beim Kauen gestört hätte.
Ich hörte nach zwei Sandwiches auf, aber Jamie und Ian aßen, bis sie über Magenschmerzen klagten. Ian sah aus, als würde er gleich umfallen. Er versuchte mühsam die Augen offen zu halten.
»Ab zurück in die Schule, Junge«, sagte er zu Jamie. Jamie musterte ihn. »Vielleicht sollte ich jetzt mal übernehmen ...«
»Geh in die Schule«, sagte ich schnell. Ich wollte Jamie heute in sicherem Abstand von mir wissen. »Wir sehen uns später, okay? Mach dir keine Sorgen wegen ... Mach dir einfach keine Sorgen.«
»Klar.« Eine Lüge, die nur aus einem Wort bestand, war nicht ganz so leicht zu durchschauen. Aber vielleicht war ich auch nur mal wieder sarkastisch.
Sobald Jamie weg war, wandte ich mich an den schläfrigen Ian. »Ruh dich ein bisschen aus. Um mich musst du dich nicht kümmern - ich werde mir ein unauffälliges Plätzchen suchen. Mitten in einem Maisfeld oder so.«
»Wo hast du letzte Nacht geschlafen?«, fragte er und sah mich unter seinen halb geschlossenen Lidern erstaunlich scharf an.
»Warum?«
»Dort könnte ich jetzt schlafen - und du könntest unauffällig bei mir bleiben.«