»Willst du es mir nicht sagen?«
Mein Kopf verneinte einmal kurz. Ich war mir nicht sicher, wer das gewesen war. Hatte ich damit gesagt, ich wolle nicht, oder Melanie, sie könne nicht?
Seine Hände schlossen sich fester um meinen Unterkiefer. Ich öffnete die Augen und sah sein Gesicht dicht vor mir. Mein Herz raste, mein Magen kribbelte - ich versuchte zu atmen, aber meine Lungen gehorchten mir nicht. Ich sah seinen Augen an, was er vorhatte; ich wusste genau, wie er sich bewegen und wie sich seine Lippen anfühlen würden. Und doch war es absolut neu für mich - ein erstes Mal, das mich so viel stärker durcheinanderbrachte als alle anderen -, als er seinen Mund auf meinen drückte.
Ich glaube, er hatte eigentlich vorgehabt, meine Lippen nur ganz kurz und sanft zu berühren, aber das veränderte sich, als seine Haut auf meine traf. Sein Mund war plötzlich hart und fordernd, seine Hände hielten mein Gesicht an seins gedrückt, während sich seine Lippen auf drängende, fremde Art auf meinen bewegten. Es war so anders, als sich nur zu erinnern, so viel intensiver. Mir schwirrte der Kopf.
Der Körper rebellierte. Ich hatte ihn nicht länger unter Kontrolle - er hatte die Kontrolle über mich übernommen. Es war nicht Melanie - der Körper war jetzt stärker als wir beide. Das Geräusch unseres Atems wurde von den Wänden zurückgeworfen; meiner heftig und keuchend, seiner ungestüm, beinahe ein Knurren.
Meine Arme befreiten sich aus meiner Kontrolle. Meine linke Hand streckte sich nach seinem Gesicht aus, nach seinem Haar, um meine Finger darin zu vergraben.
Meine rechte Hand war schneller. War nicht meine. Melanies Faust landete unter seinem Kiefer, schlug sein Gesicht mit einem dumpfen, leisen Geräusch von meinem weg. Fleisch auf Fleisch, hart und wütend.
Der Schlag war nicht kräftig genug, um uns ganz zu trennen, aber sobald unsere Lippen nicht mehr verbunden waren, fuhr er zurück und starrte fassungslos in mein schreckensstarres Gesicht.
Voller Abscheu sah ich auf die Hand hinab, die immer noch zur Faust geballt war, als hätte ich einen Skorpion entdeckt, der mir aus dem Arm wuchs. Ein entsetztes Keuchen kam aus meiner Kehle. Ich packte das rechte Handgelenk mit meiner linken Hand, verzweifelt entschlossen, Melanie davon abzuhalten, meinen Körper noch einmal für eine Gewalttat zu missbrauchen.
Ich blickte zu Jared auf. Er sah ebenfalls die Faust an, die ich zurückhielt, wobei das Entsetzen in seinem Blick wich und Erstaunen an seine Stelle trat. In diesem Augenblick war er vollkommen ungeschützt. Ich konnte in seinem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch.
Das hatte er nicht erwartet. Aber irgendetwas hatte er erwartet, das war deutlich zu erkennen. Dies war ein Test gewesen. Ein Test, von dem er geglaubt hatte, ihn problemlos auswerten zu können. Ein Test, dessen Ergebnis er im Voraus zu kennen geglaubt hatte. Aber er war überrascht worden.
Was bedeutete das: bestanden oder durchgefallen? Der Schmerz in meiner Brust war keine Überraschung. Ich wusste bereits, dass ein brechendes Herz mehr war als eine Redewendung.
In einer Situation, in der es darum ging, zu fliehen oder zu kämpfen, hatte ich nie eine Wahl; ich würde mich immer für Flucht entscheiden. Da Jared zwischen mir und dem dunklen Tunnelausgang hockte, wirbelte ich herum und stürzte mich in das mit Kartons vollgestopfte Loch.
Die Kartons knirschten, knisterten und knackten, als mein Gewicht sie gegen die Wände und den Boden drückte. Ich schlängelte mich in das Loch, in dem eigentlich überhaupt kein Platz für mich war, wand mich um die schwereren Quader herum und zerquetschte die anderen. Ich spürte, wie seine Finger meinen Fuß berührten, als er nach meinem Knöchel griff, und mit einem Tritt beförderte ich einen der stabileren Kartons zwischen uns. Er stöhnte auf und Verzweiflung schnürte mir die Kehle zu. Ich hatte ihm nicht schon wieder wehtun, ihn nicht schon wieder schlagen wollen. Ich versuchte nur zu entkommen.
Ich nahm mein eigenes lautes Schluchzen nicht wahr, bis ich nicht mehr weiter in das vollgestopfte Loch hineinkam und meine Kriechgeräusche verstummten. Als ich mich jetzt selbst hörte, mein stoßweises, herzzerreißendes, qualvolles Keuchen, schämte ich mich.
Ich schämte mich so sehr, fühlte mich so gedemütigt. Ich war entsetzt über mich selbst, über die Gewalt, die mein Körper ausgeübt hatte - egal, ob willentlich oder nicht -, aber das war es nicht, weshalb ich weinte. Ich weinte, weil es ein Test gewesen war und weil ich dummes, dummes, dummes gefühlsgesteuertes Wesen wollte, dass es echt war.
Melanie wand sich vor Schmerzen in mir und es war schwierig, diesen doppelten Schmerz zu durchschauen. Ich wäre am liebsten gestorben, weil es nicht echt war; sie wäre am liebsten gestorben, weil es sich für sie schon sehr echt angefühlt hatte. Bei allem, was sie seit dem Ende ihrer Welt vor so langer Zeit verloren hatte, hatte sie sich noch nie verraten gefühlt. Als ihr Vater die Sucher zu seinen Kindern geführt hatte, wusste sie, dass er das nicht selbst war. Damals hatte sie sich nicht verraten gefühlt, sie hatte getrauert. Ihr Vater war tot. Aber Jared lebte und war er selbst.
Niemand verrät dich, du Dummkopf, fuhr ich sie an. Ich wollte, dass ihr Schmerz nachließ. Die zusätzliche Last ihres Leids war zu viel. Meins reichte mir.
Wie konnte er nur? Wie?, tobte sie, ohne mich zu beachten.
Wir schluchzten unkontrolliert.
Ein einziges Wort holte uns vom Rand des Nervenzusammenbruchs zurück.
Vom Eingang der Höhle her fragte Jareds leise, raue Stimme, gebrochen und eigenartig kindlich: »Mel?«
Abgekürzt
»Mel?«, fragte er noch einmal, wobei die Hoffnung, die er gar nicht haben wollte, seine Stimme färbte. Ich schluchzte erneut auf, ein Nachbeben. »Du weißt, dass ich dich damit gemeint hab, Mel. Du weißt das doch. Nicht sie ... es. Du weißt, dass ich es nicht geküsst habe.«
Mein nächster Schluchzer war lauter, ein Aufheulen. Warum konnte ich nicht still sein? Ich versuchte den Atem anzuhalten. »Wenn du da drin bist, Mel ...«Er schwieg. Das »wenn« gefiel Melanie überhaupt nicht. Ein Schluchzen brach aus meiner Lunge und ich schnappte nach Luft.
»Ich liebe dich«, sagte Jared. »Auch wenn du nicht da bist, wenn du mich nicht hören kannst. Ich liebe dich.«
Ich hielt wieder den Atem an und biss mir auf die Lippe, bis sie blutete. Der körperliche Schmerz lenkte mich nicht so stark ab, wie ich gehofft hatte.
Draußen vor dem Loch war es still und drinnen auch, während ich blau anlief. Ich lauschte angestrengt, konzentrierte mich allein auf das, was ich hörte. Ich dachte nicht nach. Kein Laut war zu vernehmen.
Ich lag in einer völlig verdrehten Stellung da. Mein Kopf war der niedrigste Punkt meines Körpers, meine rechte Gesichtshälfte wurde gegen den rauen Felsboden gepresst. Meine Schultern hingen schräg über einer zerquetschten Kiste, die rechte höher als die linke. Meine Hüften waren in die entgegengesetzte Richtung geneigt und meine linke Wade stieß gegen die Decke. Meine Beine und Füße waren eingeschlafen und kribbelten wie von tausend Nadelstichen. Ich fühlte, wie sich überall Blutergüsse bildeten, die ich beim Kampf mit den Kartons davongetragen hatte. Ich wusste, dass ich irgendeinen Weg finden musste, Ian und Jamie begreiflich zu machen, dass ich sie mir selbst beigebracht hatte, aber wie? Was sollte ich sagen? Wie sollte ich ihnen erklären, dass Jared mich versuchsweise geküsst hatte, wie man einer Laborratte einen Stromstoß versetzt, um zu sehen, wie sie reagiert?
Und wie lange sollte ich in dieser Position verharren? Ich wollte kein Geräusch machen, aber meine Wirbelsäule fühlte sich so an, als würde sie jeden Augenblick durchbrechen. Die Schmerzen wurden von Sekunde zu Sekunde unerträglicher. Ich würde nicht mehr lange in der Lage sein, sie lautlos zu ertragen. In meiner Kehle bildete sich bereits ein Wimmern.