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Thomas Lehr

September. Fata Morgana

Für Dorle

und für Fadhil,

von denen ich nicht genug lernen kann.

Die Geschichte ist der Irrgarten der Gewalt.

Johann Wolfgang Goethe

I. Das Schiff, September 2001

An dieser Welt bleib ich doch immer kleben,

An ihr erlahmt mein noch so hohes Streben,

Kein Wissen, das mich über sie erhebt,

Und kein Verstand, um ohne sie zu leben.

(Omar I-Khajjam, Die Sinnsprüche Omars des Zeltmachers)

Und ich sage jedem Mann und jeder Frau:

Lass deine Seele kühl und gefasst vor einer Million Universen stehen.

Und ich sage allen Menschen: Seid nicht neugierig auf Gott,

Denn ich, der neugierig auf alles ist, bin nicht neugierig auf Gott.

(Walt Whitman, Grasblätter)

Muna

Unsere Geschichte

hängt in der Luft in der Nacht

Schwester denn du beendest sie nicht ihr seidener Faden hält unser Leben unsichtbar im Dunkel wer ihn zerschneidet

braucht es nicht gewusst zu haben

immer schon wunderte es mich weshalb es den König nicht störte dass Dinarasad jede Nacht unter seinem Bett lag und ich fragte mich auch um was für ein Bett es sich handelte damit sie darunter liegen konnte ich denke es mir oben wie einen kleinen Palast aus Seidenkissen Flamingofedern schwellendem Purpur Rosenblättern und Zungen und darunter den Staub die Knochen die Spinnweben ich habe keine Ahnung wie sie die Schlafstätten der Könige bauten

im Inselreich von Indien und China

im Fernen Osten in dem es noch exotischere Märchen geben soll als hier in Bagdad nirgendwo fantasiert man besser als unter dem mächtigen Bett meines Großvaters (ich kannte ihn nicht er starb ein Jahr vor meiner Geburt und war eine Art Radio- und Fernsehkönig) in seinem Haus in Wasiriya in dem ich mit Sami Verstecken spielte um auch ihn so oft unter jenem Bett zu finden in dem meine Großmutter alleine schlief schon seit mehr als tausend Nächten

an jenem Tag vor drei Wochen an dem ich

siebzehnjährig

nur aus Spaß noch einmal das Versteckspiel wiederholte (allein) dieses Sich-Begraben am helllichten Tag Skorpion im Wüstensand während draußen im Innenhof seit Stunden die Hochzeitsgesellschaft tafelt trinkt tanzt liege ich noch einmal unter dem nach Rosenwasser Lavendelsträußchen Moder und getrockneten Orangenschalen riechenden Bett der Spaß den ich mir machte war aber nur die Flucht

vor der Flucht es war doch so dass ich den kalt triefenden Blick (Spucke auf Eiswürfeln) des Majors nicht mehr ertrug dieses angeblichen Freundes des zu allem lächelnden Bräutigams meiner Schwester

still lag ich unter dem Lattenrost im Grab der verwitweten Frauen ich wünschte mir Sami an meine Seite noch einmal als Zehn- oder Zwölfjährigen vergnügt ohne Angst zu allem bereit dann hätten wir dem Major heimlich Salz in den Arrak geschüttet oder gar hineingespuckt in den Nebel den er trinkt das Glas strahlte im Innenhof für eine Sekunde so leuchtend weiß auf wie das perlenbesetzte Kleid meiner Schwester Täubchen sagte er zu mir wie zu einem Kind und streifte scheinbar versehentlich mit dem Ellbogen meine Brust Täubchen und ich sah den kurdischen Jungen am Rand des Saadun-Parks vor mir der die Federn aus einer von einem Auto angefahrenen Taube riss aus mir als liefe das Blut

aus meinen Brustwarzen

die ich jetzt mit flachen Händen schütze während der Rost unter der großen Matratze sich biegt Schwester fast stößt er mir ins Gesicht auch dich nennt er Täubchen Jasmin diese Stimme gerade als ich unter dem Bett wieder hervorkriechen wollte ich muss dich jetzt haben heute hier als Braut es ist vielleicht das letzte Mal glaub mir ach was Kasim wird nichts merken ich werde mit ihm saufen bis er seinen Hosenschlitz nicht mehr aufkriegt leg dich doch mein Täubchen

und wie du muss ich die Beine öffnen die Knie nach außen drehen den Kopf abwenden als wollten mich die schwingenden Latten (grau staubig hart) küssen mir Nase und Zähne brechen

ihr

das Ungeheuer

gegürtet mit federnden Spanten

der König Tod in dir sein Pfahl ich sah ihn nur als Stein Onyx eines Gottes in einer Vitrine und als schlackerndes Anhängsel meines Bruders bevor er zur Schule ging wiegt er dich (von innen) was weiß er schon von deinen Schätzen Schwester was für ein stöhnendes Kamel ihr geworden seid in einer Wüstennacht Kamel mit zwei gegenüberliegenden Buckeln

Tauben

in der Nacht weiß schwarz schwarz weiß

Nacht vernagelt mit ächzendem Holz brecht nicht die Knochen meines Gesichts meine Rippen unter fröstelnder Haut unter dem Ansturm des Rosts des Saurierbrustkastens in dem ihr wütet Rippe an Rippe ich spüre euer Herz das Herz eines roten Ifrit es könnte ein Schiffskiel sein der über mich hinwegfährt der ganze Rumpf eines Schiffs der Lattenrost zurechtgebogen neu verfugt vergrößert hoch in der Luft Schwester

euer Bett ist

das Segelschiff deiner verräterischen Liebe

in einem rauschenden Himmel hinter meinen geschlossenen Lidern sehe ich unendlich weit als wäre eure Dau von einem Hafen inmitten der Wüste direkt in den Himmel ausgelaufen Sand trockene Körner rieseln auf meine Wangen welche Figuren nur bewegen sich in den geblähten Segeln unter den steilen Rahen machtvoll bläst uns der Wind hinauf oder zieht euch die Gier des Königs der in grünem Öl badet empor was träume ich es ist

nichts es ist

nur der Major der in meiner Schwester

brennt

wie hält sie es aus (entweder den Falschen zu heiraten oder sich benutzen zu lassen oder zwischen zwei Lügen zu leben) spritze daneben sagt sie plötzlich so kühl als stünde sie in ihrem Labor neben einem Laboranten mit einer Destillierflasche in der Hand während der

Taubenschlächter

den siebten Himmel durchpflügt

unter mir

die ich unter eurem Kiel treibe wie der helle Schatten eures Ankers

sind sechs Himmel und sieben Erden auf dem Rücken des Stiers der die Hufe auf den Fisch gestellt hat im letzten Wasser des schwarzen Meeres das auf der Dunkelheit ruht vergiss

alles vergiss alles

ich

müsste jetzt meine Stimme erheben und sagen: Erzähl mir eine Geschichte Schwester

aber du

bist in einem anderen Land

Sabrina

An einem leuchtenden Morgen beim Frühstück im Haus auf Long Island

mit Blick auf einen Streifen Sand einen Streifen Meer eine schmale Himmelslinie die Flagge Sommer im weißen Lackrahmen eines Küchenfensters es ist ein schön hinausgedehnter Sommer ein Immer-noch-Sommer fast wolkenlos mit dem Versprechen auf erträgliche Hitze an diesem Tag die Haut die Knochen noch durchglüht von Erinnerung der Duft von Sonnenmilch und Gras Sandkörnchen im Ohr unter den Fingernägeln zwischen den Zehen

aber warten wir nicht mit der ersten Geschichte des ersten Tages während du unter uns dahinfliegst mit dem Rücken zur Erde unter dem Kiel des Himmelsschiffs

meine Mutter Amanda

(zwei Wochen ist es her) sie war rasch aus ihrem Sportwagen gestiegen und hatte die Handbremse nicht oder nicht genügend angezogen so dass er leer und lautlos wie ein Spielzeugauto rückwärts die Auffahrt hinabrollte zwischen einem radelnden Jungen und einem gelben Lieferwagen hindurch über die vollkommen ruhige Straße genau zwischen die Pfosten der Einfahrt des gegenüberliegenden Hauses und dort auch in die Garage hinein wie perfekt einparkend jedoch viel zu schnell auf die Werkbank voller Flaschen Lackdosen Kanister mit Säuren und Lösungsmitteln zu und die Erinnerung an jenen Tag verwandelt sich mit einem ohrenbetäubenden Knall (die Rückwand der Garage vielleicht auch die seitliche Fensterreihe die Wellenfläche des Dachs wie ein berstender Teich) zu einer glühenden geballten Faust