Niemand konnte das beantworten. Sharpe hatte die vage Erinnerung, dass ein britisches Sechspfünder-Geschütz über hundert Geschosse in seiner Lafette, dem Munitionswagen und der Achsenbox gehabt hatte, aber er war sich dessen nicht sicher und sagte nichts. Stattdessen schlich er auf der Hügelkuppe herum, ging vom Wachturm zu den Männern hinter den Schanzen und beobachtete dann besorgt die anderen Flanken des Hügels, und immer noch gab es kein Anzeichen darauf, dass die Franzosen einen Angriff beabsichtigten.
Er kehrte zum Turm zurück. Hagman hatte eine kleine Blockflöte dabei, auf der er während seiner Genesungszeit gespielt hatte, und jetzt spielte er alte Volkslieder. Die Musik klang wie Vogelgesang, und dann hallte die Hügelkuppe von der nächsten Explosion wider. Die Granatenfragmente knallten gegen den Turm, und als der brutale Krach verstummte, setzte das Flötenspiel wieder ein.
»Ich wollte immer schon mal Flöte spielen lernen, doch ich hatte nie eine«, sagte Sharpe zu niemandem im Besonderen.
»Und ich wollte immer Geige spielen«, sagte Harris.
»Das ist ziemlich schwierig, da kann man nicht blasen wie ...«
In diesem Moment gab es ein gewaltiges Krachen im Turm selbst, und Sharpe erkannte, dass das Geschoss durch das Loch oben im Treppenschacht geflogen war und jetzt herunterfiel. Die Lunte rauchte in einer wilden Spirale, bevor das Geschoss zwischen zweien der gelagerten Tornister landete, die ihren Proviant enthielten, und Sharpe starrte darauf, sah, wie Rauch emporkräuselte, und wusste, dass sie alle sterben oder schrecklich verstümmelt sein würden, wenn es explodieren würde, und er dachte in diesem Moment nicht, sondern hechtete darauf zu. Er fiel auf das Geschoss, und die Lunte schwelte an seinem Bauch, und in ihm schrie es, denn er wollte nicht sterben. Es wird schnell gehen, durchfuhr es ihn, und ich brauche wenigstens keine Entscheidungen mehr zu treffen, und niemand sonst wird verletzt. Und er fluchte, weil das Geschoss so lange brauchte, um zu explodieren, und er starrte Daniel Hagman an, der seinerseits starrte, mit weit aufgerissenen Augen, die vergessene Blockflöte vor dem Mund.
»Bleib dort noch etwas länger«, sagte Harper mit belegter Stimme, »und du wirst das verdammte Ding ausbrüten.«
Hagman begann zu lachen, dann stimmten Harris und Cooper ein, und Sharpe rappelte sich von dem Geschoss auf und sah, dass der hölzerne Stöpsel, der die Lunte hielt, von Zündfeuer geschwärzt war. Aber irgendwie war die Lunte ausgegangen.
Sharpe hob das verdammte Geschoss auf und schleuderte es durch das Loch aus dem Turm und hörte, wie es den Hügel hinabpolterte.
»Mein Gott«, stieß Sharpe hervor. Er schwitzte und zitterte. Er sank gegen die Wand und sah zu seinen Männern, die nicht mehr lachten, weil sie zu erschüttert waren, und denen erst jetzt klar wurde, dass sie noch lebten.
Sharpe konnte selbst kaum fassen, dass die Todesangst vorüber war.
»Sie hätten Bauchschmerzen gehabt, wenn das losgegangen wäre, Sir«, sagte Hagman mit zittriger Stimme, und alle brachen wieder in Gelächter aus.
Sharpe fühlte sich erschöpft. »Wenn ihr Bastarde nichts Besseres zu tun habt«, sagte er, »dann nehmt die Feldflaschen. Jeder soll was trinken.« Er rationierte das Wasser wie das Essen, doch der Tag war heiß, und er wusste, dass jeder eine trockene Kehle hatte. Er folgte den Schützen nach draußen.
Vicente, der keine Ahnung hatte, was sich soeben im Turm abgespielt hatte, blickte besorgt drein. »Was ist passiert?«
»Die Lunte ging aus«, sagte Sharpe. »Ich konnte sie nicht mehr packen, aber sie ging einfach aus.«
Er ging zu den nördlichen Schanzen und starrte auf das Geschütz hinab. Wie viel Munition hatten die Bastarde? Der Beschuss wurde langsamer, aber das hatte anscheinend mehr mit einer Ermüdung der Kanoniere zu tun als mit dem Mangel an Granaten. Er beobachtete, wie sie eine weitere abschossen, ging jedoch nicht in Deckung, und sie explodierte hinter dem Wachturm. Die Haubitze hatte einen Rückstoß von acht oder neun Fuß gehabt, viel weniger als ein Feldgeschütz, und er beobachtete, wie die Kanoniere sie wieder an Ort und Stelle schoben.
Die Luft zwischen der Haubitze und Sharpe flimmerte wegen der Hitze des Tages, die noch verstärkt wurde, weil das Gras durch die Schüsse Feuer gefangen hatte. Das passierte meistens, und Sharpe sah, dass das Mündungsfeuer ein Stück verbranntes Gras und Farn vor dem Rohr hinterlassen hatte. Und dann sah Sharpe etwas anderes, das ihn verwirrte. Er spähte durch das kleine Ersatzfernrohr, verfluchte den Verlust seines eigenen und sah, dass ein Offizier neben dem Geschütz kniete und eine Hand hob. Diese Geste verwunderte ihn. Warum würde sich ein Offizier neben den Rädern eines Geschützes ducken?
Und Sharpe sah noch etwas. Schatten. Der Rauch war abgezogen, aber die Sonne stand noch tief und warf lange Schatten. Sharpe sah, dass der Boden mit zwei Steinen markiert war, die etwa die Größe von Zwölfpfünder-Kanonenkugeln hatten. Der Offizier ließ das Geschütz bis zu den beiden Steinen rollen. Als die Räder die Steine berührten, senkte er seine Hand, und die Männer setzten das Laden des Geschützes fort.
Sharpe runzelte die Stirn und überlegte. Warum würde an einem prächtigen Sommertag der französische Artillerieoffizier eine Stelle für die Räder seines Geschützes markieren? Die Räder, eisenbereift, würden Furchen im Erdreich hinterlassen, die als Orientierungspunkte dienen konnten, wenn das Geschütz nach jedem Schuss wieder in Position gebracht wurde, doch warum hatten sie sich die Mühe gemacht, den Boden außerdem mit Steinen zu markieren?
Sharpe duckte sich hinab hinter die Mauer, als eine neue Feuerblume und Rauch ein Geschoss ankündigten. Diese Granate explodierte vor dem niedrigen Wall, den Sharpes Männer errichtet hatten. Pendleton streckte den Kopf über die Schanze.
»Warum benutzen die keine Kanonenkugeln, Sir?«, fragte er.
»Haubitzen feuern nicht mit Kanonenkugeln«, sagte Sharpe. »Und es ist schwierig, mit einem richtigen Geschütz einen Hügel hinaufzuschießen.« Er war brüsk, denn er fragte sich immer noch, was diese Steine zu bedeuten hatten. Warum lagen sie unter der Haubitze? Hatte er sie sich nur eingebildet? Als er durch das Fernrohr blickte, konnte er sie immer noch sehen.
Dann sah er, dass die Kanoniere von der Haubitze fortgingen. Eine Gruppe Infanteristen war erschienen, doch sie bewachten nur das Geschütz, das sonst verlassen gewesen wäre.
»Sie fassen Mittagessen«, meinte Harper. Er hatte gerade Wasser verteilt und setzte sich jetzt neben Sharpe. Einen Moment wirkte er verlegen, dann grinste er. »Das war tapfer, was Sie getan haben, Sir.«
»Sie hätten das Gleiche getan.«
»Das hätte ich verdammt nicht«, erwiderte Harper heftig. »Ich wäre verdammt weggelaufen, wenn meine Beine nicht wie Gummi gewesen wären.« Er sah das verlassene Geschütz. »Ist es für heute vorbei?«, fragte er.
»Nein«, sagte Sharpe. Plötzlich verstand er, warum die Steine dort waren.
Und er wusste, was er dagegen unternehmen konnte.
Brigadier General Vuillard, der es sich in Savages Herrenhaus bequem gemacht hatte, schenkte sich von Savages feinstem weißen Portwein ein. Sein blauer Uniformrock war aufgeknöpft, und er hatte auch den obersten Knopf seiner Hose aufgeknöpft, um Platz für die feine Hammelschulter zu schaffen, die er mit Christopher, einem Dutzend Offizieren und drei Frauen verspeist hatte. Die Frauen waren französisch, gewiss keine Ehefrauen, und eine davon, deren Haar im Kerzenlicht schimmerte wie flüssiges Gold, saß neben Leutnant Pelletieu, der den Blick seiner bebrillten Augen nicht von ihren Brüsten nehmen konnte, auf denen der Schweiß durch den weißen Puder auf ihrer makellosen Haut sickerte. Allein ihre Anwesenheit verschlug Pelletieu fast die Sprache, sodass sich seine Selbstsicherheit, die er bei der ersten Begegnung mit Vuillard gezeigt hatte, in nichts aufgelöst hatte.
Der Brigadier General, amüsiert über die Wirkung der Frau auf den Artillerieoffizier, neigte sich vor, um eine Kerze von Major Dulong entgegenzunehmen, mit der er seine Zigarre anzündete. Es war ein warmer Abend, die Fenster standen offen, und eine Motte flatterte um den Kandelaber in der Mitte des Tisches.