»Und was ist mit uns?«, fragte Vicente.
»Wollen Sie immer noch nach Oporto?«
»Unser Regiment ist dort stationiert«, sagte Vicente. »Es ist seine Heimatstadt. Die Männer sind besorgt. Einige haben dort Familie.«
»Begleiten Sie uns noch bis Barca d'Avintas«, schlug Sharpe vor, »dann kehren Sie heim. Aber seien Sie auf den letzten paar Meilen vorsichtig. Es wird schon alles glattgehen.« Das glaubte er nicht, aber das konnte er nicht sagen.
So rasteten sie. Posten beobachteten vom Waldrand aus, während die anderen schliefen, und kurz nach Mittag, als die Hitze jeden schläfrig machte, glaubte Sharpe ein entferntes Donnern zu hören. Es waren keine Regenwolken in Sicht, folglich war es kein Gewitterdonnern, sondern Geschützfeuer, aber er konnte das nicht mit Sicherheit sagen. Harper schlief, und Sharpe fragte sich, ob er nur das Schnarchen des großen Iren gehört hatte, doch dann nahm er wieder das ferne Donnern war, obwohl es so schwach war, dass er es sich auch nur eingebildet haben konnte. Er stieß Harper an, um ihn zu wecken.
»Was ist?«
»Ich versuche zu lauschen«, sagte Sharpe.
»Und ich versuche zu schlafen.«
»Hören Sie mal hin!« Aber jetzt war es still bis auf das Rauschen des Flusses und das Rascheln der Blätter im Ostwind.
Sharpe überlegte, ob er eine Patrouille zur Erkundung nach Barca d'Avintas schicken sollte, doch er entschied sich dagegen. Er wollte nicht seinen bereits gefährlich kleinen Trupp teilen, und die Antwort auf die Frage, welche Gefahren im Dorf lauerten, konnte bis zum Morgen warten.
Bei Einbruch der Dunkelheit glaubte er das ferne Donnern wieder zu hören, doch dann drehte der Wind, und das Geräusch erstarb.
Die Morgendämmerung war still, und der Fluss wirkte glatt und poliert wie Stahl. Luis, der sich gut in Sharpes Team eingefügt hatte, hatte sich als geschickter Schuhmacher erwiesen und einige stark verschlissene Stiefel geflickt. Er hatte Sharpe angeboten, ihn zu rasieren, doch Sharpe hatte nur den Kopf geschüttelt. »Die Rasur kann warten, bis wir auf der anderen Seite des Flusses sind.«
»Ich bete, dass Ihnen kein Bart wächst«, meinte Vicente, und dann marschierten sie los, folgten einem gewundenen Pfad durch das hohe Terrain.
Der Weg war uneben, überwuchert und von tiefen Furchen durchzogen, und sie kamen nur langsam voran, doch sie sahen keinen Feind. Dann wurde das Land flach, der Pfad verbreiterte sich und führte an Weingärten entlang, und Barca d'Avintas, dessen weiße Häuser unter der aufgehenden Sonne leuchteten, lag vor ihnen.
Es befanden sich keine Franzosen dort. Zwei Dutzend Leute waren in die geplünderten Häuser zurückgekehrt, und sie schauten alarmiert, als die Uniformierten, die wie Landstreicher wirkten, auf der kleinen Brücke über den Fluss kamen, doch Vicente beruhigte sie.
Laut Dorfbewohner hatten die Franzosen alle Boote beschlagnahmt oder verbrannt. Sie hatten die Franzosen selten gesehen. Manchmal war eine Patrouille Dragoner durch das Dorf geritten. Sie hatten über den Fluss gespäht, etwas Proviant gestohlen und waren weitergeritten. Eine Frau, die Olivenöl, Eier und Räucherfisch auf dem Markt von Oporto verkaufte, sagte, dass die Franzosen das Flussufer zwischen der Stadt und der See unter Bewachung hielten, doch Sharpe maß ihren Worten nicht viel Gewicht bei. Ihr Mann, ein Riese mit schwieligen Händen, hielt es für möglich, aus dem Holz zertrümmerter Möbel ein Floß zu zimmern.
Sharpe stellte am westlichen Rand des Dorfes Posten auf. Er kletterte dort auf einen Baum und stellte erstaunt fest, dass er einige von Oportos Gebäuden am hügeligen Horizont sehen konnte. Das große weiße Gebäude mit dem Flachdach, das er gesehen hatte, als er Vicente zum ersten Mal begegnet war, zählte zu den auffälligsten, und er war bestürzt, dass sie sich so nahe bei der Stadt befanden. Das große weiße Gebäude konnte kaum mehr als drei Meilen entfernt sein, und gewiss hatten die Franzosen Posten am Stadtrand und beobachteten die Zufahrtsstraßen. Und er musste hier den Fluss überqueren.
Er kletterte vom Baum hinab und wollte gerade den Rock ausziehen, als ein langhaariger junger Mann in verschlissener Kleidung ihn anstarrte und muhte. Sharpe starrte erstaunt zurück. Der Mann muhte von Neuem, dann grinste er albern. Er hatte schmutziges rotes Haar, strahlend blaue Augen und einen schiefen Mund, aus dem Speichel rann, und Sharpe erkannte, dass er ein Idiot und vermutlich harmlos war. Sharpe erinnerte sich an Ronnie, den Dorfidioten in Yorkshire, dessen Eltern ihn an eine Ulme anzuketten pflegten und der die grasenden Kühe anmuhte und die Mädchen anknurrte. Dieser Mann verhielt sich ähnlich, aber er war auch lästig, zerrte an Sharpes Ellbogen und versuchte den Engländer zum Fluss zu ziehen.
»Haben Sie sich einen Freund gemacht, Sir?«, fragte Tongue amüsiert.
»Er ist ein verdammtes Ärgernis, Sir«, meinte Perkins.
»Er meint es nicht böse«, sagte Tongue, »möchte nur mit Ihnen schwimmen gehen, Sir.«
Sharpe riss sich von dem geistig Behinderten los. »Wie heißt du?«, fragte er, dann wurde ihm klar, dass es vermutlich wenig Sinn hatte, mit einem portugiesischen Schwachsinnigen Englisch zu sprechen, doch der Idiot war erfreut, dass jemand mit ihm sprach. Er grinste und hüpfte auf und ab. Dann zog er wieder an Sharpes Ellbogen.
»Ich werde dich Ronnie nennen«, sagte Sharpe. »Was willst du, Ronnie?«
Seine Männer lachten jetzt, aber Sharpe hatte ohnehin zum Flussufer gehen wollen, um zu sehen, welchen Herausforderungen sein Floß gewachsen sein musste, und so ließ er sich von Ronnie mitziehen. Der Idiot plapperte auf dem ganzen Weg, aber nichts davon ergab einen Sinn. Er führte Sharpe zum Fluss, und als Sharpe versuchte, sich aus seinem überraschend festen Griff loszureißen, schüttelte Ronnie den Kopf und zerrte ihn weiter zwischen einigen Pappeln hindurch und durch dichte Büsche. Schließlich ließ er Sharpes Arm los und klatschte in die Hände.
»Du bist überhaupt kein Idiot, nicht wahr?«, sagte Sharpe. »In Wirklichkeit bist du ein verkanntes Genie, Ronnie.«
Da war ein Boot. Sharpe hatte bei seinem ersten Besuch in Barca d'Avintas die niedergebrannte und eingesunkene Fähre gesehen, und jetzt wurde ihm klar, dass es zwei Boote gegeben hatte und dies das andere sein musste. Es war ein flaches, breites und plumpes Boot, die Art Boot, das eine kleine Schafherde oder sogar eine Kutsche und ihre Gespannpferde transportieren konnte. Es war mit Steinen beschwert und lag in einem Graben unter den Bäumen.
Sharpe fragte sich, weshalb ihm die Dorfbewohner das Boot nicht eher gezeigt hatten. Er nahm an, dass sie alle Soldaten fürchteten und das Boot versteckt hatten, bis friedliche Zeiten zurückkehrten. Die Franzosen hatten fast alle Boote zerstört und nie erfahren, dass das zweite Boot noch existierte. »Du bist ein verdammtes Genie«, sagte Sharpe noch einmal zu Ronnie und gab ihm das letzte Stück Brot, das einzige Geschenk, das er hatte.
Jetzt besaß er ein Boot.
Und dann hörte er wieder den Donner, den er so entfernt in der vergangenen Nacht wahrgenommen hatte. Diesmal war er jedoch näher, und es war unverkennbar. Es war kein Gewitterdonner. Christopher hatte gelogen, und es gab keinen Frieden in Portugal.
Es war Kanonenfeuer.
KAPITEL 8
Das Geschützfeuer kam von Westen durch das Flusstal mit den steilen Hängen, und Sharpe wusste nicht zu sagen, ob da eine Schlacht am nördlichen oder südlichen Ufer des Douro im Gange war. Er wusste auch nicht genau, ob es wirklich eine Schlacht war. Vielleicht hatten die Franzosen Batterien errichtet, um die Stadt gegen einen Angriff vom Meer zu schützen, und diese Batterien feuerten nun auf ein Schiff oder übten nur. Eines war sicher: Er würde es nie erfahren, wenn er nicht näher ans Geschehen heranging.
Er rannte zurück ins Dorf, gefolgt von Ronnie, der seine unartikulierten Laute ausstieß.