»Sir!«, zischte Harper vom Ufer. »Sir!« Er wies über den Fluss, und Sharpe sah jenseits des Wassers einen roten Uniformrock. Ein einzelner Reiter, offenbar ein Brite, starrte ihn an. Der Mann hatte einen Zweispitz auf dem Kopf, also war er ein Offizier, aber als Sharpe winkte, erwiderte er die Geste nicht. Sharpe nahm an, dass der Offizier von seiner grünen Uniform verwirrt war.
»Holen Sie alle her, sofort«, befahl Sharpe Harper, dann blickte er wieder zu dem Reiter. Sekundenlang fragte er sich, ob es Colonel Christopher war. Doch dieser Mann war schwergewichtiger und sein Pferd hatte - wie die meisten britischen Armeepferde - einen gestutzten Schweif, während Christopher sein Pferd unkupiert gelassen hatte. Der Mann, der unter einem Baum im Sattel verharrte, wandte sich um. Anscheinend sprach er mit jemandem, aber Sharpe konnte niemanden sonst auf dem gegenüberliegenden Ufer entdecken. Dann blickte der Mann wieder zu Sharpe und gestikulierte lebhaft zu den drei Booten hin.
Sharpe zögerte. Zweifellos war der Mann ranghöher als er, und wenn er den Fluss überquerte, würde er wieder der eisernen Disziplin der Armee unterworfen sein und musste auf die Freiheit verzichten, so zu handeln, wie er es für richtig hielt. Wenn er einen seiner Männer schickte, würde es wohl das Gleiche sein, aber dann dachte er an Luis, und er rief den ehemaligen Barbier und half ihm an Bord. »Können Sie mit einem kleinen Boot zurechtkommen?«, fragte er.
Luis blickte einem Moment erschreckt, dann nickte er. »Ja, das kann ich.«
»Dann rudern Sie über den Fluss und finden heraus, was dieser britische Offizier will. Sagen Sie ihm, dass ich das Seminar erkunde. Und melden Sie ihm, dass ein anderes Boot in Barca d'Avintas liegt.« Sharpe vermutete, dass die Briten nordwärts vorgerückt und durch den Douro gestoppt worden waren. Er nahm an, dass die Kanonade von den Geschützen stammte, die sich über den Fluss hinweg beschossen hatten, aber ohne Boote würden die Briten hilflos sein. Wo war die verdammte Navy?
Harper, Macedo und Luis hoben das kleine Boot in den Fluss. Luis nahm die Riemen und lenkte mit erstaunlichem Geschick vom Ufer fort. Er blickte über die Schulter, um seine Richtung abzuschätzen, und pullte dann heftig los. Sharpe sah einen anderen Reiter hinter dem Offizier auftauchen. Der zweite Mann trug ebenfalls einen roten Uniformrock, und Sharpe hatte das Gefühl, dass die Armee ihn in ihre Schlinge zog, und so sprang er vom großen Weinboot und watete durch den Schlamm ans Ufer. »Sie bleiben hier«, befahl er Vicente. »Ich sehe mich oben auf dem Hügel um.«
Einen Moment hatte es den Anschein, als würde Vicente etwas einwenden, doch dann akzeptierte er Sharpes Anweisung, und Sharpe forderte seine Schützen mit einer Geste auf, ihm zu folgen. Als sie zwischen den Bäumen waren, blickte Sharpe zurück und sah, das Luis fast am anderen Ufer war, dann schob sich Sharpe durch eine Buschgruppe und sah die Straße vor sich. Dies war die Straße, auf der er aus Oporto entkommen war. Zu seiner Linken konnte er die Häuser erkennen, wo Vicente ihn gerettet hatte. Er sah keinen Franzosen und starrte wieder zum Seminar hoch, doch nichts bewegte sich dort. Zur Hölle damit, dachte er, geh einfach weiter.
Er führte seine Männer den Hügel hinauf. Es gab wenig Deckung. Ein paar verkrüppelte Bäume und eine verfallene Hütte standen auf halbem Weg, aber sonst war es wie eine Todesfalle, wenn es Franzosen in dem großen Gebäude gab. Sharpe wusste, dass er nicht vorsichtig genug war, doch niemand feuerte aus den Fenstern, niemand schlug Alarm, und er beschleunigte seine Schritte und spürte seine Beine, denn der Hang war steil.
Dann erreichte er den Fuß des Seminars. Das Erdgeschoss hatte acht schmale, verriegelte Fenster und sieben Türen. Sharpe versuchte, eine Tür zu öffnen, und fand sie verschlossen und so solide, dass er sich wehtat, als er sie auftreten wollte. Er duckte sich und wartete auf die Nachzügler seiner Männer. Er konnte westwärts durch ein Tal sehen, das zwischen dem Seminar und der Stadt lag, und erkannte, dass die französischen Geschütze von Oportos Hügel über den Fluss hinwegfeuerten, doch ihr Ziel war verdeckt von einer kleinen Erhebung auf dem südlichen Ufer. Ein riesiges Kloster stand auf der Erhebung, das gleiche, erinnerte sich Sharpe, wo sich die portugiesischen Geschütze mit den Franzosen an dem Tag duelliert hatten, als die Stadt eingenommen worden war.
»Alle hier«, meldete Harper.
Sharpe folgte der Mauer des Seminars, die aus massiven Blocksteinen errichtet war, westwärts zur Stadt hin. Er wäre lieber in die andere Richtung gegangen, doch er vermutete, dass der Haupteingang des Gebäudes zur Stadt blickte. Jede Tür, die er passierte, war verschlossen. Warum, zum Teufel, waren keine Franzosen hier? Er konnte keinen sehen, nicht einmal eine halbe Meile entfernt am Stadtrand. Und dann endete die Mauer, und er wandte sich nach rechts. Er sah eine Treppe, die zu einer mit Ornamenten verzierten Tür hinaufführte. Keine Posten bewachten diese Tür, doch jetzt konnte er Franzosen sehen. Auf einer Straße, die ins Tal nördlich des Seminars führte, stand ein Konvoi von Wagen. Die Wagen, von Ochsen gezogen, wurden von Dragonern eskortiert.
Sharpe benutzte Christophers kleines Fernrohr und erkannte, dass sie mit Verwundeten gefüllt waren. Schickte Soult die Verwundeten zurück nach Frankreich? Oder leerte er seine Lazarette, bevor er in eine andere Schlacht zog? Er dachte sicherlich nicht daran, gen Lissabon zu marschieren, denn die Briten waren von Süden bis an den Douro gekommen, und das ließ Sharpe daran denken, dass Sir Arthur Wellesley in Portugal eingetroffen sein musste, um die britischen Streitkräfte schlagartig aktiv werden zu lassen.
Der Eingang des Seminars war von einer reich verzierten Fassade umgeben, die von einem steinernen Kreuz gekrönt war, das von Musketenfeuer beschädigt war. Die Haupttür, deren Holz mit Nägeln beschlagen war und zu der eine Treppe führte, hatte einen Griff aus Schmiedeeisen, und als Sharpe ihn drehte, stellte er überrascht fest, dass sie sich öffnen ließ. Er stieß die Tür mit der Mündung seines Gewehrs weit auf und sah eine geflieste leere Halle mit grün angestrichenen Wänden. Das Porträt eines halb verhungerten Heiligen hing schief an einer Wand, und der Körper des Heiligen war mit Kugeleinschüssen übersät.
Sharpe ging durch die Halle, und seine Schritte hallten von den Wänden.
»Jesus, Maria und Joseph«, sagte Harper und bekreuzigte sich. »Ich habe noch nie einen so großen Bau gesehen. Wie viele verdammte Priester braucht ein Land?«
»Das kommt darauf an, wie viele Sünder es dort gibt«, sagte Sharpe. »Und jetzt durchsuchen wir den Bau.«
Er ließ sechs Männer als Posten in der Eingangshalle zurück und ging nach unten, um eine der Türen zu öffnen, die auf den Fluss blickten. Diese Tür würde sein Fluchtweg sein, wenn die Franzosen zum Seminar kamen, und vor dem Rückzug wollte er erst die Schlafsäle, Küchen, das Refektorium und die Bibliothek des großen Gebäudes durchsuchen. Möbeltrümmer lagen in jedem Raum, und in der Bibliothek lagen die Bücher zerrissen auf dem Boden verstreut, aber es hielt sich niemand darin auf. Die Kapelle war beschädigt, der Altar zu Brennholz zerschlagen, und der Chorraum war als Toilette benutzt worden.
»Bastarde«, sagte Harper leise.
Gataker, dessen Abzugsbügel des Gewehrs an einer letzten Schraube baumelte, starrte auf ein primitives Gemälde zweier Frauen, die sich mit drei französischen Dragonern vergnügten. Das Bild hing an einer weiß getünchten Wand, wo einst ein großes Triptychon der Heiligen Geburt über dem Altar gehangen hatte. »Das ist gut«, sagte er in einem so respektvollen Tonfall, als sei er auf einer Sommerausstellung der Royal Academy.
»Ich mag die Weiber ein wenig fülliger«, meinte Slattery.
»Kommt weiter«, blaffte Sharpe. Seine dringendste Aufgabe war jetzt, den Weinkeller des Seminars zu finden - er war überzeugt, dass es einen gab -, aber als er ihn schließlich entdeckte, stellte er mit Erleichterung fest, dass die Franzosen ihn bereits gefunden und nichts als zerbrochene Flaschen und leere Fässer zurückgelassen hatten. »Dreimal verdammte Bastarde!«, sagte Harper. Sharpe hätte die Flaschen und Fässer ebenfalls zerstört, um zu verhindern, dass sich seine Männer besinnungslos tranken. Und dieser Gedanke ließ ihn unbewusst entscheiden, so lange in dem großen Gebäude zu bleiben, wie er konnte. Die Franzosen wollten zweifellos Oporto halten, aber wer hielt das Seminar, das die östliche Flanke der Stadt beherrschte?