«Entschuldigen Sie, Herr Büdenbender», sagte sie trocken, «aber wissen Sie eigentlich, dass es in Ihrem Zimmer unheimlich nach Alkohol riecht?»
Büdenbenders Nase wurde noch grauer; sie war aus feuchtem Gips.
«Ach?», sagte er. «Das ist aber seltsam.»
Eisiges Schweigen.
Von einer Sekunde auf die andere glühte Thorstens Nacken in tausend Rottönen. Was tun? Schübe von heißem Blut rauschten durch seine Ohren und unter der Stirn durch, zurück in den stichelnden Nacken. Mode sagte nichts, hatte nur eine leere, falsche Maske über sein Pausbackengesicht gezogen, in unschuldiger Erwartung des Kommenden. Die Chefredakteurin kostete das Schweigen aus. Beide blickten sie auf Büdenbender, aber es war klar, dass sie eigentlich Thorsten ansahen: über Bande.
«Aber richtig stark», sagte die Chefredakteurin. «Es riecht richtig stark nach Alkohol.»
«Komisch», sagte Büdenbender suchend und empört, «ich habe noch nicht mal ein Mon Chéri gegessen.»
So ein Idiot, dachte Thorsten.
«Na dann», sagte die Chefredakteurin.
Pause.
Ihr schauspielernder Blick, der noch immer an Büdenbender hing, füllte sich mit Ungeduld. Es war Zeit für Thorstens Einsatz.
«Damit kein falscher Verdacht auf Herrn Büdenbender fällt», sagte er möglichst gefasst, «der, der hier ein wenig nach Alkohol riecht, das bin wahrscheinlich ich. Ich war gestern auf einem David-Bowie-, äh, Dings, — Gig, also Konzert, und hatte dort drei Whiskey Cola. Und der Bartender mochte mich wohl, wie man immer noch riecht …»
«David Bowie?» Alle entspannten sich. «Wie war er denn?»
«Großartig», versicherte Thorsten, selber erleichtert, «großartig. Er hat sogar die alten Hits gespielt. Mit Placebos.»
«Auch den einen, den er für den Transvestiten geschrieben hat?»
«Welchen Transvestiten?»
«Mit dem er in Berlin gelebt hat.»
«Nein», schaltete sich Büdenbender eifrig ein, «er hat mit Brian Eno und Iggy Pop zusammengewohnt. Oder meinen Sie Iggy Pop? Ist Iggy Pop ein Transvestit?»
«Harald?», brüllte Françoise unvermittelt in ihr plötzlich hochgerissenes Telefon. «Harald, ich weiß, dass du das weißt. Wie hieß der Transvestit, mit dem David Bowie in Berlin zusammen war? Jaa! Ich wusste, dass du das weißt!» Sie legte auf. «Romy Haag», strahlte sie.
«Das ist halt nicht unsere Generation», sagte Thorsten scherzhaft zu Büdenbender, der sehr erschrocken aussah.
«Das ist auch nicht meine Generation», sagte die Chefredakteurin bissig, warf Thorsten einen giftigen Blick zu und stöckelte ab. Er grinste in sich hinein.
«Hier», sagte Mode, zwinkerte wie ein müder Boxerhund und drückte ihm eine Red-Bull-Dose in die Hand. «Mögen Sie doch, oder? Das Taurin wirkt auch als Anti-Kater-Mittel.»
«Ja», sagte Thorsten, «ich weiß. Das Taurin stimuliert Stoffwechsel und Kreislauf und fördert den Abbau von schädlichen Substanzen.»
«Und von Giften», sagte Mode.
«Und von Giften», sagte Thorsten.
«Und Alkohol ist ein Gift», sagte Mode.
«Medizinisch betrachtet», sagte Thorsten.
«Medizinisch betrachtet», sagte Mode, «ja.»
«Danke», sagte Thorsten.
«Gerne», sagte Mode.
Planogramm, Planogramm, Planogramm. Thorsten saß im Büro und musste endlich arbeiten. Er war auf der Flucht vor der betrieblichen Alkoholpolizei und stand vor dem Gesetz der Effektivität. Er hatte den Drang, etwas zu leisten, den skeptischen Blicken Gegenbeweise zu liefern, Erfolgsmeldungen zu generieren, revolutionäre Konzepte, und zwar sofort.
Er starrte auf den Monitor.
Ein Planogramm für den Bereich 34, «Mitteldeutschland» hieß das, Thüringen, regionale Relevanz, das Unternehmen war mit sechzehn Stationen dort vertreten, dazu dreimal weiße Farbe (das sind unternehmenseigene, jedoch markenlose, «anonyme» Tankstellen).
Er nahm die AC-Nielsen-Daten hinzu, die Kassenergebnisse der vier Teststationen in Berlin, Leipzig, Rostock und Dresden, verglich und rechnete und rechnete und schätzte ab. Er studierte die neuesten Trendbarometer der Marktforschungsinstitute und kam zu dem Schluss, dass die Apfelschorle auf dem Kamm der wachsenden Wellness-Welle im nächsten Sommer ganz oben mitschwimmen würde. Zurück zur Natur! Zum Wohle des Körpers. Einweg- und PET-Gebinde waren natürlich an prominenter Stelle und dreifach zu platzieren, die Margen sind größer, und Mehrweg ist Sache des Getränkehandels und nicht Sache der auf Spontankonsum abzielenden Convenience-Stores. Was war mit den Bittergetränken? Haben eine sehr spezialisierte, kleine Zielgruppe, aber Genießer, fast esoterisch, doch nicht zu verachten, nicht zu vernachlässigen, eine Position Bittergetränke sollte auch in kleinformatigen Kühlregalen vorhanden sein, denn Spezialisten neigen zum Bündelkauf und nehmen womöglich noch zwei Schachteln Zigarillos mit (neuer Presenter gleich im Kassenbereich!), oder vielleicht eine Tomaten-Mozzarella-Ciabatta im Backshop, oder gar eine Flasche Rioja gefällig? Die Klassiker Fanta, Coca-Cola, Sprite in allen Größen und Gebinden mittig. Wasser! ein ganz besonderer Saft, das wahre Ding, immer mehr im Kommen, siehe Wellness, siehe Studenten und urbanes Gesundheitsbewusstsein, die Zahlen sprechen für sich, und auch der Wasserverschnitt Bonaqua, sogenanntes Tafelwasser, läuft inzwischen gut. En vogue: stille Wasser, Volvic, Vittel, dazu die milden Wasser, die stummen Quellen.
Seine Stirn glühte. Der Warhol tanzte. Er rechnete weiter.
Im Power Point setzten sich die ersten präsentablen Ergebnisse zusammen. Thorsten geriet ins Schwärmen und trank noch einen Nescafé Quick.
Vielleicht einen Schuss Jägermeister hinein? In Gedanken haute er sich auf die Finger, seine realen Finger aber zitterten merklich. Das Denken wollte abschweifen, das Telefon klingelte, er hob nicht ab. Er starrte auf die Flaschenikonen, die er liebte. Er wusste, dass das Design der klassischen Colaflasche aus den dreißiger Jahren den Körperformen einer Frau nachempfunden worden war. Er starrte auf die Flaschenformen, stellte sich das Frauenbild in den Köpfen der damaligen Designer vor und wurde seltsam geil, auf eine aseptische, industrielle Weise, wie er sie schon kannte, wie sie ihn oft beim Shoppen in sterilen, amerikanisch hellen Supermärkten überkam, oder beim Anblick schweren, blitzblanken Industriegestells, oder beim Eintauchen in einen lagunenblauen, jungfräulichglatten Swimmingpool.
Thorsten driftete ab, er sah jetzt in allen Flaschen weibliche Silhouetten und fragte sich: Wie wäre es denn eigentlich mit einem Planogramm der Frauen? Große Gebinde, kleine Gebinde? Schlanke Dose, bauchige Flasche, Tetrapak? Premixed oder Flavoured? Einweg oder Mehrweg?
Er prustete los, so lustig fand er sich und diesen Einfall, sah schon Frauen aller Größen und Hautfarben schön kategorial aufgereiht in frischhaltenden Kühlregalen, Hand in Hand, luftdicht verpackt und regungslos, dann schluckte er seinen Lachanfall gewaltsam herunter und vergewisserte sich, dass niemand außer ihm im Zimmer war.
Ihm fiel ein, dass ein Schulkamerad einmal folgenden Witz gemacht hatte: «Wenn man mal Thorstens Kopf auffräst, ist da kein Hirn drin, sondern eine gigantische Eichel.»
Eine E-Mail flatterte in die Inbox, begleitet von einem hellen Ambient Sound.
lieber herr kühnemund/anbei der text zur abstimmung/ich hoffe, sie sind zufrieden?/korrekturen und verbesserungen bitte möglichst bald,/da redaktionsschluss schon in vier tagen./vielen dank!/best/taue/ps.: ich bräuchte noch die cd mit den auswertungen der teststationen, umsatzsteigerung seit optimierung, etc. pp. — könnten sie die mir freundlicherweise zukommen lassen? mit den vorher-nachher-fotos? danke!/pps.: schöne grüße von meiner tante!