Thorstens Laune fiel auf einen Tiefpunkt. Welche Tante bitte? Was sollte das? Dieser Taue ging ihm auf die Nerven. Thorstens Nase begann sofort wieder zu jucken. Auch der lockerflockige Ton, mit dem der Typ ihn quasi auf Augenhöhe, in Kleinschrift anredete, schmeckte ihm nicht, «best»! Es passte so überhaupt nicht zu dem verklemmten, arroganten Menschen, der ihn bis aufs Blut gereizt hatte, durch Sitzen, Schreiben, Surren, Nichtstun, durch die Art und Weise, wie er gesessen, geschrieben, gesurrt, nichts getan hatte: als schüchterner Feind, als verschreckter Rebell, im Ironiepanzer. Das war alles nicht miteinander in Einklang zu bringen. Allein die Tatsache, dass seine Gedanken sich genervt mit diesem Außenseiter befassten, ließ ihn noch einmal niesen. Er schnäuzte sich, sammelte schnell (welche Tante?) seine Notizen zum Kaffeekonzept-Meeting zusammen, sprühte die Mundhöhle mit Odol aus und machte sich zum Mittagessen mit den Shop-Beratern auf.
DRITTER TEIL JOHN CASSAVETES
It takes hold of my tongue
In situations like these
Komm jetzt, Schlaf. Nimm mich mit, ich bin unendlich müde. Erklär mir, was fehlt, wickle mich in dein Schwarzes. Sie hatte gehört, wie Thorsten in die Wohnung gepoltert und durch den Flur getrampelt war. Sie hatte es nicht hören wollen. Jetzt fühlte sie den Luftzug seines Atems, roch das Vergorene darin. Sie musste zweimal unwillkürlich schniefen, ließ aber dann bewusst einen Seufzer schlafenden Wohlbefindens hören, damit er nicht etwa dachte, sie würde wach sein, gar weinen.
Sein Atem strich über ihr Gesicht. Wenn sie ihn jetzt zu sich herunterziehen und umarmen würde, ganz nah, dachte sie, er seine Hand vielleicht auf ihre Brust legte, dann würde es sein wie immer. Er würde zu etwas sehr Kleinem, Altem, das sie sorgsam in ihren Armen hielte, und sie würden ihren Atem aufeinander abstimmen können.
Aber sie wollte nicht, und er wollte es nicht, und sie wollte ihm auch keine Szene machen, wo warst du so lange, wieso trinkst du so viel, sie wollte nicht wissen, mit welchen anderen Frauen er zu tun gehabt, in welchen Clubs er sich wie peinlich aufgeführt hatte, sie kannte das alles. Sie wollte schlafen, einen langen, tiefen, samtenen Schlaf, nicht träumen, bloß nicht träumen, einfach liegen und schlafen und weg sein, jetzt, wo er da war.
Am nächsten Tag saß Laura im Morgenmantel vor ihrem Laptop, seit Stunden schon. Sie tippte und löschte das Getippte und las dann das gestern Getippte und löschte es wieder. Thorsten war schon längst im Büro, gedopt mit Aspirin und Red Bull und Kaffee, er hatte vielleicht drei Stunden geschlafen und war aufgeschreckt, bevor der Wecker ging. Sie hatte es mitbekommen. Ihr Schlaf war dünn.
«Entfremdung», dachte sie. Das gibt es doch gar nicht. Das darf es doch nicht geben, so ein Wort. Eine marxistische Erfindung ist das, ein hegelianisches Konstrukt, semantischer Müll der Frühmoderne, seit Generationen weitergereicht. Sie starrte in den graublauen Schein. Das ganze Zimmer war in dieses seichte Laptoplicht getaucht.
Ein Licht wie von den Heiligenscheinen alter polnischer Ikonen, dachte Laura, oder wie in den herb-romantischen Horizonten Caspar David Friedrichs. Sie starrte auf die Sätze, die in ihrem lügnerischen Times-New-Roman-Font aussahen wie bereits gedruckt, wie längst veröffentlicht. Sätze, die sie wohl selbst geschrieben hatte, lange her, Sätze einer Seminararbeit mit dem Titel «Rechtswirkungen von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts». Siebzehn Punkte hatte sie dafür bekommen, vor einem Jahr; bei Juristen sind solche Noten eine Sensation. Ihr Professor, ein ätherischer, weißhaariger Dandy, der es, obwohl homosexuell, mochte, sich mit hübschen Assistentinnen zu umgeben, hatte vor zwei Wochen gefordert (und er hatte dabei einen Apfel am Revers geputzt, mit seinen langen, feingliedrigen Fingern, die sich um die glänzende Frucht schlossen), sie solle die alte Seminararbeit noch einmal geringfügig überarbeiten, um das neue, solchermaßen zum mündlichen Vortrag aufbereitete Paper bei der kommenden Freiburger Juristentagung «Wirkungen von Recht» vorzustellen. Sie solle die Sätze straffen, die Argumente schärfer konturieren, die Transparenz der Methodik offenlegen. Sie wisse ja, wie das gehe, er mache sich da keine Sorgen, er kenne doch seine Laura, die zukünftige Assistentin.
Der Morgenmantel lastete auf ihren Schultern, warm und flauschig, schwer und feucht wie ein soeben erlegtes Tier. Sie starrte auf die Sätze, messerscharfe Formulierungen, die sich zu wasserdichten Ableitungen verhakten. Das war alles sehr logisch und stringent. Aber sie verstand es nicht mehr. Begriffe (Evaluation, Wertewirkung, Sanktionserwartung, Zielkonformität) oder Argumentationsschritte (Prämisse, Subsumtion, Deduktion, Konklusion) waren ihr nicht mehr zugänglich. Nur die Oberfläche, die lexikalische Bedeutung der Worte war für sie erreichbar, ihre Übersetzung in Funktionen, ihr wirklicher Gebrauch und Nutzen in actu communicationis dagegen waren verschütt gegangen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, außer dem einen, furchtbaren, der ständig wiederkehrte: dem Gedanken an drohende Nachfragen aus dem kritischen Auditorium, wenn sie nochmals äh erläutern könnten also mich würde in diesem Kontext noch interessieren ob und äh warum in welcher Form worin und wer, und ihr wurde schwindlig und heiß zugleich.
Sie schloss die Augen und hörte ihren Atem. Hörte ihn lauter als mit offenen Augen. Ein und aus ging die Luft, ein, und aus, durch ihre Lungen. Sie öffnete die Augen, und schloss sie wieder, und öffnete sie wieder, im Takt des Cursors, der sie blinkend verhöhnte.
Eine neue Krankheit kündigt sich an. Woher, warum, das weiß man nicht, man ist sich selbst nach wie vor die Fremdeste, nichts hilft. Die Erinnerung an den ersten Augenblick der Panik ist so schwierig. Laura versuchte sich zu konzentrieren, sich zu fassen, ihre Kräfte zu bündeln. Es gelang nicht, aus Angst, aus Angst vor der Wiederholung dieses Augenblicks. Die Wiederholung würde ihr endgültige Gewissheit über den bisher nur als Befürchtung zugelassenen Gedanken geben, dass sie krank war, verheerend krank. Die Wahrscheinlichkeit, die bisher nur angedachte Möglichkeit war, würde sich sofort zur Gewissheit verfestigen, dachte sie, den Blick festgezurrt am Monitor.
Wobei Wahrscheinlichkeit ein zu schwaches Wort war: Der Verdacht hatte sich innerhalb der letzten Tage derart verhärtet, dass Laura die Krankheit bereits als Faktum angenommen hatte — jedoch nicht als Krankheit. Es gab Symptome, die Klischees waren, die Klischees gewesen und jetzt Symptome waren, und es gab Gedanken, die unentwegt in Richtung Krankheit dachten.
Sie hielt ihren Atem an und horchte in die Stille. Spürte den Druck, das Gewicht der Luft in ihren Lungen. Hörte, als Erinnerung, Kontrast und ebenfalls Hohn, Thorstens Atem. Wie anders er atmete, nachts, betrunken. Nicht so flach und rastlos, so oberflächlich wie sie, sondern regelmäßig ein und aus, schwer, aber unbewusst, zugedröhnt, aber frei. Wie war das, Frauen atmen mehr mit der Brust, Männer mit dem Zwerchfell? Alles in der Vogue Gelesene bisher Quatsch, dachte Laura, stand auf und ging in Richtung Toilette.
Ich atme und denke, dass ich atme, ich versuche mich nicht auf meinen Atem zu konzentrieren, ihn nicht zu bemerken, nicht an ihn zu denken, was natürlich das genaue Gegenteil bewirkt, totale Gefangennahme im Atem. Denke ich, ich darf nicht an meinen Atem denken, denke ich sofort nur noch an meinen Atem, ausschließlich, unausweichlich. Das Gehirn hat seine Eigendynamik, es stürzt von alleine los, bevor ich irgendwo Halt finden könnte. Sofort bin ich mir meiner selbst als Organismus bewusst. Damit fängt es doch an: mit diesem Bewusstsein meiner selbst als fragiler Organismus, innerlich aufgewühlt, zutiefst sterblich, umspannt nur von sehr dünner Haut, nein, es war kein Bewusstsein, eher nervöse Evidenz, nein, Körperperzept, nein, nicht.