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Bald dämmerte es, und die Stimmen vom Anrufbeantworter vermischten sich mit dem tröpfelnden Easy Listening aus der Stereoanlage, alles war abgefedert, wattiert, nichts mehr spürbar, endlich, Schlaf, komm, Schlaf, alles zu bedecken mit deinem dichten, falschen Schwarz.

Hier ist der Druck, die Konkurrenz, spürbar an der Schlagader, wie es pulsiert, und wie es wummert in den Schläfen. Ein Gespinst von Kollegenparanoia umspannt das Hirn wie ein Einkaufsnetz die Supermarktware, aber da ist zu viel Ware drin, die Maschen knirschen, wollen reißen, schneiden ins innere Fleisch. Blicke stechen im Nacken, der Herzschlag beschleunigt.

Einer sei geschasst worden, hieß es, schon wieder sei einer weg vom Fenster.

Was? Wer?

Herrn Michaelis vom Tabak habe es getroffen, aber nichts war offiziell.

Michaelis?

Ja, bei Tisch hatte man es kurz angedeutet, verhuscht, Nachfragen wurden mit einem Achselzucken quittiert.

Wieso gerade Michaelis?

Keine Ahnung.

Wieso jetzt?

Wer weiß.

Auf dem Flur schnappte Thorsten Gesprächsfetzen von Frau Parapluie auf:

«Das müssen Sie natürlich jetzt nicht bestätigen, aber wer ist denn dann mein Ansprechpartner?»

Thorsten blieb kurz stehen, gab vor, sein Handy zu inspizieren, schüttelte es, drückte Tasten.

«Sie wollen, dass wir nichts erfahren, und deshalb erfahren wir es natürlich noch viel schneller, genau.»

Das Telefon blinkte und funkelte und beepte dann unvermittelt, Thorsten erschrak.

«Es bleibt spannend, Herr Stowasser, danke, ich frage Frau Kante, danke.»

Benommen ging er weiter in sein Zimmer. Der Warhol tanzte in schrillen Farben. Michaelis war sein Verbündeter gewesen. Einmal waren sie miteinander ausgegangen, ins halbseidene Nachtleben, hatten Zigarren geraucht, waren auf Tische gestiegen, hatten die hübschesten Frauen — wie Michaelis es natürlich nannte — «angebaggert». Seitdem standen sie sich alliiert im Nichtangriffspakt gegenüber, im Witz salutierend. Ein Scherz, ein Einverständnis. Jetzt war er weg. Es konnte jeden treffen.

Es hatte sich vieles geändert in den letzten Jahren. 1998 lag der Ölpreis bei zehn Dollar das Barrel. Dann kam Rot-Grün, schließlich platzte die New-Economy-Blase. 2002 der Paybackkrieg: Kaufe und sammle, noch das piefigste Mittelstandsunternehmen entwickelte ein Kundenbindungsprogramm, und RADIKAL zog mit und wollte an vorderster Front dabei sein, wie es hieß. Jetzt entließ die Londoner Zentrale zwanzig Prozent der Mitarbeiter in der deutschen Dependance in Berlin, einfach so. Es wurde härter. Alles auf stramm, hieß es, alles auf die Eins.

Aufzug hinab, die Organe im Leib rucken kurz hoch, leichter Schwindel im Kopf. Noch durch die Schleuse, die Checkkarte über den Sensor gezogen, das Drehkreuz entriegelt, wrumpf, zehn Schritte an den Empfangsdamen vorbei, nicken, lächeln, Handzeichen geben, dann ab in den Vorraum, zwei Glastüren aufgestoßen, die kalte Luft schlägt ins Gesicht, die Freude schießt hoch. Das Losungswort für einen kurzen Kick heißt ganz banal nur: Wochenende.

Einen Reisschnaps, ein Bier. Dann ein Bier, einen grünen Tee mit Ingwer, einen Reisschnaps. Einen Wodka auf dem Klo, mit Red Bull verdickt und versüßt. Zurück am Platz spielte Thorsten mit Salzstreuer und Pfeffermühle. Er war mit der Journalistin verabredet. Angenehm verloren sich die Gedanken, lösten sich in den Alkoholschüben auf.

Gefühlsleere Asiaten huschten im Restaurant herum wie Geister. Er überlegte, ob er Ente oder Hühnchen nehmen sollte, zweimal gebacken, in knusprigem Teig? Da betrat sie das Restaurant, mit sofort verfänglichem Blick, blaue, helle Augen strahlten Thorsten siegessicher an. Und dieser Mund.

Ella erzählte ihren Traum von letzter Nacht. Nichts ist langweiliger, als wenn Leute ihre Träume erzählen, dachte Thorsten, nickte aber interessiert und warf hin und wieder einen passenden, mitdenkenden Kommentar ein. Wichtiger war die Körpersprache. Das wusste er nicht erst durch die zahlreichen Personal Trainings. Schon als kleiner Junge hatte er gemerkt, dass, wer nur aufrecht in der Schulbank saß und gut aussah, automatisch gute Noten bekam.

Sie habe ihrer eigenen Beerdigung beigewohnt im Traum, schwärmte die Popjournalistin, während sie Tofustücke in die glibbrige Süßsauersoße tunkte. Thorsten überlegte, ob dieser Traum, in dem es um Vogelperspektiven, fremde Gäste und schräge Blicke ging, irgendetwas mit ihm zu tun habe. Er konnte beim besten Willen keinen Hinweis darauf finden.

«Schließlich ist mein Fleisch zu Staub zerfallen, den meine Verwandten dann schnupften. Und mein Skelett blieb, ganz hell und durchsichtig und leuchtend, wie Neon. Jemand sagte ‹Buttersäure›. Da bin ich aufgewacht.»

Ella lachte und aß Tofu und blickte ihn süßsauer an, und er lachte zurück, ohne auch nur ein Wort verstanden zu haben.

Was ist zu sagen zum Thema Betrug? Betrug ist die Kehrseite der Liebe. So wie die Liebe in ihrem innersten Kern banal ist und herrschsüchtig, zersetzend, hässlich, zutiefst egoistisch, so ist der Betrug banal und herrschsüchtig, zersetzend, hässlich, zutiefst egoistisch.

Eine andere Frage ist für die Liebe viel gefährlicher als der Betrug: Liebe ich die Person selbst oder nur ein Bündel aus Eigenschaften, die der Person beigemischt sind und mich anziehen? Meist ist nicht sicher, ob ich jemanden oder etwas liebe. Die Elternliebe ist vielleicht noch die reinste Form der Liebe, denn sie meint (mit Abstufungen gleichwohl, Stichwort Lieblingskind) die Person selbst. Die Liebe zum Partner aber kann sich ihrer selbst nie so ganz sicher sein.

Vielleicht liebe ich nur die Art und Weise, wie jemand sich bewegt, wie jemand redet, welche Möbel er mag, welchen Stil er pflegt, und ganz und gar nicht die konkrete Person selbst? Oder ist die Person selbst am Ende nur ebendieses Mosaik aus eigenen und fremden Eigenschaftssplittern, und der emphatische Begriff der Person ist heillos verloren in den Weiten einer überkommenen Metaphysik?

Eines jedenfalls ist sicher: Der Betrug hat der Liebe voraus, dass er die betroffene, die betrogene Person zu hundert Prozent trifft, und zwar, indem er sie völlig vergisst. Der Betrüger merkt dies freilich erst nachträglich — wenn der Betrug offen daliegt und seziert wird wie ein faulender, stinkender Leichnam. Dann stellt sich Ekel ein. Und der größte Schmerz gleich nach dem Tod geliebter Menschen.

«Wach auf.»

Er war ihr ganz nah, beugte sich über sie, wie ein Drache. Woher kam dieses weiche Licht? Laura musste sich orientieren, wo war sie gerade, wo war sie jetzt. Schnell setzte sich alles wieder zusammen, Tetris, Memory, hier, jetzt, die Wohnung, und Thorsten über ihr. Eine heimatlose Freundlichkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Das Licht bewegte sich in Schlieren.

«Wach auf, Keks.»

Die verklebten Augen fanden sich noch nicht zurecht. Ihr Gesicht schien zu glühen. Sie wollte die Augen wieder schließen, dann wieder nicht. Sie räkelte sich. Überall standen Kerzen herum. Daher dieses milde, schattige Licht?

Thorsten sah aus wie ein Priester bei der letzten Salbung. Die Kerzen umrahmten das Bett, es erinnerte an eine Leichenbahre. Nein, das war nur ein kurzer, unscharfer Eindruck, ein verhuschtes Déjá-vu von etwas längst Vergangenem.

Musik zog träge durch das schummrige Zimmer, es hörte sich für Laura an wie Country auf Valium: Akustikgitarren, die sich von Akkord zu Akkord schleppten, eine benebelte Sitar, die diskret im Hintergrund klagte und so das Lied zusammenhielt, eine sexy Männerstimme, die sehr müde von Fehlern und seichten Depressionen sang, auf Amerikanisch: trauriges Kaugummi.