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Der Laptop auf dem Schreibtisch war ausgeschaltet, zugeklappt, schlief. Das ließ sie kurz aufatmen. Thorsten hatte sich umgezogen, trug jetzt ein rosa Oberhemd unter brauner Weste, hatte auch irgendwas Peppiges mit seinen Haaren gemacht. In der Luft hing ein feuchter Geruch von saurem Fleisch und dicker, reicher Sahnesoße. Er hatte sich also wieder zur Liebe aufgerafft, und deshalb bedrängte er sie jetzt mit seiner Liebesfülle und ließ ihr nicht Raum noch Zeit zum Erwachen. Sein Gesicht, das sie liebte, war ihr zu nahe, eine flache Fläche, auf der die Gesichtszüge, seine schlitzigen Germanenaugen und die kräftigen Augenbrauen und sein schiefer, spöttelnder Mund wie aufgeklebt wirkten. Ein Gesicht fast ohne Schatten.

Irgendetwas zischte in der Küche, erst kaum vernehmlich und wie eine Ankündigung, dann plötzlich aggressiv und hinterhältig, wie ein Tier. Thorsten sprang auf. Das Zischen wurde lauter. Laura war irritiert. Eine leere Erinnerung stellte sich ein, mehr die Form, das Gefühl einer Erinnerung als diese selbst. Dann schepperten Topf und Deckel aus der Ferne, Thorsten rief etwas Unverständliches herüber, etwas vom Tonfall her Freundliches, Schmunzelndes. Die Kerzenflammen bewegten sich träge mit der Musik.

Laura richtete sich auf. Ihre linke Hand war eingeschlafen, das merkte sie jetzt. Die Hand fühlte sich wattiert an und taub und viel dicker, als sie in Wirklichkeit war, geschwollen unter tausend Hautschichten, unter körpereigenem Mull. Bei dem Versuch, die Finger zu bewegen, piekste es fürchterlich. Sie massierte ihre Daumenballen. Auf einmal ging ein angenehmer Strom durch das Fleisch, das Blut geriet wieder in Bewegung, floss zurück in den Kreislauf. Sie fühlte eine warme, traurige Wallung in der Brust und einen Druck am Gaumen.

Thorsten rief aus der Küche. Wieder verstand sie nichts, seine Wörter drangen nicht zu ihr durch. Es klang wie eine Frage, die sie ohnehin nicht beantworten konnte. Sie wollte noch nicht in die Küche gehen. Sie wollte Thorsten Zeit geben, irgendetwas zu machen, damit die Küche und er selbst nicht wie sonst wären. Vielleicht schon würde eine winzige Veränderung reichen, eine andere Zeitung auf dem Fensterbrett, ein neuer Blumentopf auf dem Schemel. Aber sie wusste, das Küchenfenster würde wieder beschlagen sein und in dem Wasserfilm würden wieder die beiden Figuren sichtbar werden, die sie einmal vor Wochen mit dem Finger ins Feuchte gemalt hatte, als er am Herd gestanden war: zwei Strichmännchen, die sich im Kuss umarmten, von einem Herz umrahmt. Und sie wollte nicht daran denken, dass dieses Fensterbild, das immer nur erschien, wenn er kochte, immer schwächer und schwächer wurde, je öfter er kochte; sie wollte nicht daran denken; sie sprang auf und öffnete das Wohnzimmerfenster.

Die kalte Luft stürzte herein. Auf dem Fensterbrett regte sich ein Blatt Papier, auf dem sie ihre eigene, stark zentrifugale, großzügige Schrift erkannte. Aus der Küche zischte es erneut, und in den Geruch der schweren Soße und der eingebutterten Kartoffeln mischte sich das gute Aroma von etwas Angebratenem, vielleicht Zwiebelringe, schockerhitzt? Oder blutigrote Paprika?

Laura stand auf, das Lied war zu Ende, jetzt kam irgendwas Originelles, Stimmungsvolleres. Sie konnte das nicht mehr hören, nicht diese gewollte Schrägheit, und ging in die Küche. Thorsten pfefferte gerade nochmals die Steaks ein, mit der Pfeffermühle in seiner Hand. Er sah sie liebevoll an. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, spielte noch immer verschlafen, wusste, dass sie süß wirkte mit dem wirren, abstehenden Haar, den dümmlichen Augen, setzte sich fast trotzig hin, ohne auf das beschlagene Fenster zu blicken.

Sein Nacken, ausrasiert, bleicher Schimmer, blonder Scheitel. Sie starrte da hin, verbohrte sich in diesen Nacken, in den sie gestern noch ihre Fingernägel gekrallt hatte, im unteren, unscharfen Blickfeld griffen seine Hände nach Gewürzen.

Die richtige Dosierung von allem, ja-haa, die hatte er drauf, die richtige Mischung, was zuerst kommen, was zuerst zerlaufen, anschmoren, festbraten musste, um das richtige Aroma auszuströmen, was darüber- und daraufgehörte, was besser blanchiert wurde, welche Poren sich wann schließen mussten. Seine Hände machten das schon ganz automatisch, Rapsöl, Rucola, angezogen mit Schalotten.

Es sah aus wie eine Verzweiflungstat.

Laura saß unnütz auf dem Küchenstuhl und unterdrückte einen inneren Impuls, den Blick auf das beschlagene Fenster zu richten. Etwas sagen.

«Was sollen denn die Kerzen?»

«Lass es einfach zu, Keks. Eine andere Stimmung.»

«Du bist süß.»

«Du siehst so weich und sexy aus im Kerzenschein. Wirklich.»

Sie kicherte. Der Dampf und die schweren Bratgerüche betäubten sie, gleichzeitig lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sich verzehren, dachte sie. Sich verschwenden. Thorsten kippte das Fenster und servierte.

«Moment, ich ziehe mich noch um.»

«Lass, Keks. Du bist perfekt so.»

Die Soße troff sämig vom Fleisch, die Kartoffeln dampften, fest, goldgelb, Butterlachen sammelten sich in den Spalten, die er mit der Gabel hineindrückte. Auf beiden Tellern, Gustav-Klimt-Gedeck, Bradford Edition, lag ein dekoratives Lorbeerblatt. Der Spinat sah aus wie Tang. Thorsten streichelte ihr über die Wange, mit einem weit offenen Lächeln, und wünschte ihr guten Appetit.

«Michaelis ist entlassen worden.»

«Welcher Michaelis?»

«Der kleine, geile Genießer. Der Zigarrenraucher.»

«Der für Tabak zuständig war?»

«Ja.»

«Hm. Schlimm. Und was macht er jetzt?»

«Weiß ich nicht.»

Das braungraue, innen rötliche Fleisch lag vor Laura und schien von alleine zu zerfallen. Unter leichtem Druck ihres Messers wurde das Gewebe des Fleisches sichtbar, winzige Fleischfasern sonderten sich voneinander ab. Die Struktur wurde umso deutlicher, je mehr das Fleisch unter ihrem Messer zerfiel. Das ist doch total zerkocht, dachte sie.

Sie führte ein Stück zum Mund und aß es. Thorsten stocherte im Essen herum. Wenn sie ihn ansah, wich er ihrem Blick aus, sah auf den Teller, starrte auf Lorbeerblatt und Seetang.

«Bleibt es bei dem Ausflug morgen?»

«Ja, klar.»

«Ich freue mich drauf. Hoffentlich hält das Wetter.»

«Kommst du weiter, Keks? Mit dem Urheberrecht?»

«Ja. Ganz gut.»

Kriegsschutt unter den Sohlen, dreckiggrün überwachsen, vorbei am Monte Klamotte, mit den lächerlich phallischen Abhörstationen, dem sogenannten großen Ohr, stapften sie zum sogenannten Teufelssee. Überall Nacktbader und Nacktsonner, denen das labbrige Fleisch herunterhing, teils sonnengegerbt, teils bleich und rosig, eingeölt immer, schlaff und wie tot. Ein Drachen versuchte vergeblich, am Himmel klebenzubleiben, stürzte nach kurzem Innehalten sofort wieder ab.

«Ist wohl irgendwie ein Knotenpunkt der Geschichte hier», sagte Laura und warf ein Frisbee zurück, das ihr vor die Füße gefallen war. Die offensichtlich bekifften Teenager dankten es ihr mit Handzeichen.

«Krebsknoten», sagte Thorsten, «ein Krebsknotenpunkt.»

Laura sah ihn überrascht an. Er überlegte, auf wie vielen Häusern er im Moment wohl stand.

«Vierhunderttausend zerbombte Häuser vielleicht? Bestimmt viel Geschirr darunter, vielleicht eine Leica-Ausrüstung, vielleicht auch ein paar klitzekleine Mittelohrknochen?»

Aber weder diese Zahl noch die Tatsache, dass er hier auf dem Teufelsberg am westlichen Rand Berlins und womöglich tatsächlich an einem Krebsknotenpunkt der Geschichte stand, beschäftigten ihn wirklich. Es waren Spiele, Spekulationen, die mit seinem Leben nichts zu tun hatten.

Laura legte sich ins Gras. Zögerlich legte er sich dazu. Jede seiner Bewegungen schien ihm umständlich. Die Nackten nervten ihn.

«Die Wellen sind noch immer in der Luft», sagte Laura und zupfte Blümchen, «die Radiowellen, Telefongespräche, das kann alles noch abgefangen werden.»

Sie entkorkte den Weißwein. Thorsten sah sie heimlich an. Schön sah sie aus, das hohe Jochbein, die Blässe der Haut, die entspannte Traurigkeit ihrer Gesichtszüge. Eine alteuropäische Traurigkeit, hatte er immer gedacht. Er konnte das alles noch immer sehen, ihre Schönheit und deren Details, konnte an ihrem Profil herabwandern und dabei das Besondere ihrer Züge durchbuchstabieren wie einen alten Bibelvers, konnte es als ästhetischen, respektvollen Genuss empfinden — aber er konnte ihre Schönheit nicht mehr fühlen. Etwas von dieser Schönheit ging verloren auf dem Weg zu ihm, etwas, das Entscheidende.