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Ihr Anblick machte ihn müde. Das war neu.

Es drang nicht zu ihm durch, genau wie die Fakten dieses Ortes, der Schutt des Weltkriegs, die Ruinen des Kalten Krieges, er konnte sich das aufsagen, aber es sagte ihm nichts. Empfindungslose Erinnerung. Wissen als Abzählreim. Das Gras begann in seiner Nase zu jucken.

Laura legte den Kopf in den Nacken und hielt ihr Gesicht in die Sonne, atmete dabei besonders innig ein und aus. Thorsten fand das albern und kratzte sich am Arm. Er zog einen Alkopop aus dem Rucksack, ploppte ihn auf und trank ihn sofort zur Hälfte aus. Er schmeckte zuckersüß und ekelhaft. Er wusste nichts zu sagen. Die ganze Szenerie kam ihm zuckersüß und ekelhaft vor.

Nachdem er die Flasche schnell geleert hatte, holte er einen kleinen Wodka und einen Red Bull aus dem Rucksack, schüttete ein Drittel des Red Bulls ins verdorrte Gras und füllte die Dose (deren Berührung ihm die angenehmste des bisherigen Tages war) mit klarem Wodka auf.

«Du solltest nicht so viel trinken, schon am Nachmittag.»

«Ach, es ist Samstag, und ich bin gestresst vom Job. Du trinkst auch Weißwein.»

«Das ist etwas anderes. Prost.»

Sie stießen klanglos an. Thorsten blätterte in der Financial Times Deutschland, er suchte einen Artikel über den Rabattkrieg. Das rosagefärbte Papier kam ihm plötzlich bizarr vor. Er rieb es zwischen Daumen und Zeigefingerkuppe, bekam eine Gänsehaut, weil er an quietschende Tafelkreide denken musste, und spürte dabei, wie sich eine wohltuende alkoholische Leere im Kopf ausbreitete.

Laura redete schon seit geraumer Zeit über einen Artikel, den sie einmal für das Rotarier-Magazin geschrieben hatte, über das Ende der Geschichte, Posthistoire, Ernst Jünger, Francis Fukuyama, Arnold Gehlen. Sie bemerkte, wie lächerlich ihr solche Thesen nun vorkämen, nach dem elften September, nach den weltpolitischen Verwerfungen, wie sie schmunzelnd anfügte, Ex-Bundeskanzler Schröder zitierend. Ganz abgesehen davon, dass der ganze Rotary-Club ihr im Rückblick wie eine Ansammlung alter, debiler Menschen vorkäme.

«Huntington», sagte sie, «hatte recht: Clash of Civilizations. Oder?» Sie gähnte.

Thorsten nickte und sagte auswendig Gelerntes über China auf. Die neue Macht des dritten Jahrtausends, eine Veränderung im Weltgefüge, Verschiebung der Kräfte, und dann dozierte er über die Ölverknappung aufgrund wachsender Nachfrage in Indien und Südamerika. Das Jucken in seiner Nase wurde dabei so stark, dass er niesen musste. Er besprühte seine rosa Zeitung mit Rotz. Laura reichte ihm ein Taschentuch.

«Danke», sagte er und schnäuzte sich, «ich gehe mal kurz an den See, mir ist nicht so gut.»

«Okay», sagte Laura. «Willst du vielleicht etwas essen?»

«Später, Keks», antwortete Thorsten, «vielen Dank», und küsste sie aufs Schlüsselbein und stand auf.

Sofort empfand er das herumliegende nackte Menschenfleisch als Affront. Auf dem Weg zum See musste er über fettig geölte Glieder steigen, die da lagen wie vergessenes Brennholz, Beine wie Scheite, krude Penisse, schlaffe Brüste. Unten am Wasser leerte er den Rest Wodka pur in einem Zug, sodass es ihn schüttelte. Der See lag ruhig und leblos vor ihm.

Eine hagere, nackte Kate-Moss-Schönheit spazierte zu seiner Rechten mit ihrem nackten, langhaarigen Kind am Ufer entlang. Er wünschte sie sich beide angezogen, um länger hinschauen zu dürfen, fast fühlte er sich schuldig, dass er bekleidet war. Er kannte diese Welt nicht.

Plötzlich lief ein brennendes Pieksen über seinen Rücken, ein zweiter Schuldanfall wie ein Schock, sein Kopf wummerte. Details der Nacht vor zwei Tagen, als er Laura wieder betrogen hatte, spukten durch seinen Kopf: geschlossene Augen, schmatzende Münder, wütendes Zustoßen.

Was mache ich nur?

Er schloss die Augen und griff sich an den Kopf. Da meldete sich sein Bauch mit einem Stich. Der Magen krampfte kurz zusammen und wand sich. Schweiß trat auf seine Stirn. Dann verging der Bauchschmerz so schnell, wie er gekommen war, ein wohliges Schütteln durchfuhr ihn. Dann war es vorbei.

Kate Moss ging vorbei, ohne es zu bemerken, ohne ihn anzublicken. Nur das Kind blieb kurz stehen und sah ihn offen an, mit dem wissenden Blick, der ernsten Kindern zu eigen ist. Er hoffte, dass es nichts sagen würde. Auf redende Kinder konnte er nur schlecht reagieren, er nahm dabei weder sich noch das Kind ernst. Das Kind schwieg, trippelte weiter, und Thorsten war erleichtert.

Zurück bei Laura setzte er sich auf die grüne Picknickdecke, schenkte sich Weißwein ein und sagte mit heller Stimme: «Ich liebe dich.»

Am nächsten Tag musste er seine Stimme wieder ins Dunkle modulieren, denn er hatte einen Vortrag vor großem Publikum zu halten. Er gurgelte Whiskey, dann Odol; er flunkerte sich vor, dass ihm das jenes sonore Timbre verleihen würde, das zwielichtige Rockstars so mühelos performten. Und ja, ein Rockstar wollte Thorsten heute sein, ein Rockstar des Absatzes und der Verkaufskonzepte. Seine Rede würde Rock sein, ein Ruck durch die Köpfe der Servicenomaden dort draußen, ja; so dachte er, um sich anzufeuern.

Space Management ist die umsatzsteigernde Strukturierung und Optimierung von Shopbereichen, memorierte Thorsten automatisch seinen Einstiegssatz. Auf dem Handout spiegelte sich das Spotlight wider, schillerte, verformte sich, darunter war sein Leben zu lesen: 1999 hatte er als Trainee bei einem der größten Ölkonzerne Europas angeheuert, vorher hatte er seine Wehrzeit als Feldjäger in Garmisch-Partenkirchen verbracht, danach Studium der Betriebswirtschaftslehre auf einer Privatuniversität in Gießen mit je einem Auslandssemester in England, Frankreich, Amerika, alles ganz neoliberal, Abschluss mit ordentlichen bis herausragenden Noten, flankiert von ausgezeichneten Referenzen. Der Konzern hatte ihm nach Ablauf seiner Ausbildung das Angebot gemacht, mit dem Umweg über die Schmierstoff-Abteilung eine Karriere als Shopberater einzuschlagen. Seine Leistungen hatten ihn jedoch schnell für das Category-Management-Team qualifiziert.

Und jetzt stand er hier, unter der Ölsonne, im Zweistromland, wo Benzin und Red Bull aus nie versiegenden Quellen flossen. Er musste sich jetzt nur noch ein wenig behaupten, ohne schlecht aufzufallen, musste Rückgrat und Ellenbogen beweisen, dann wäre es geschafft.

Dann hätte alles einen Sinn.

Hinterm Rednerpult, vor der Power-Point-Projektion, im Rampenlicht, im Leben, im Arbeiten, überall.

Während der großen Partnerversammlung (die Pächter wurden «Partner» genannt, um das hierarchische Gefälle zwischen Herr und Knecht zu verhüllen) stand Thorsten also vor seinem Auftritt auf der Bühne des Veranstaltungssaals des Hotels Estrel in Neukölln und war nichts anderes als panisch. Durch den in ein tiefwarmes Rot getauchten Raum tänzelten leichtfüßige Praktikantenbunnys, um kleine Informationsbroschüren an die Pächter zu verteilen, die dort im Dunkeln saßen wie Kinobesucher.

Soeben hatte Marketingleiter Peter Bakrum die markenpolitischen Strategien des Konzernnetzes erläutert: Es gelte, hatte es durch den Saal gehallt, «Wasser für die Servicewüste Deutschland» zu sein, «blühende Oasen der proaktiven Kundennähe» zu bieten und die Marke so mit den positiven Werten der Kundenfreundlichkeit, der Menschlichkeit, des «gewissen Extras an Customer Care» zu besetzen. Bakrum hatte mit seiner Brille gespielt, auf die träge wechselnden Projektionen gezeigt, die Brille wieder aufgesetzt und emphatisch die Worte «von Mensch zu Mensch» in das Mikrophon gehaucht.